Christlich-Jüdische Gesellschaft schockiert über Umfrage

"Das macht mich wirklich fast verrückt"

Das Land NRW hat untersuchen lassen, wie tief Antisemitismus in der Gesellschaft verwurzelt ist. Die Ergebnisse sind auch für Wissenschaftler erschreckend. Ein Treiber ist TikTok. Jürgen Wilhelm ist aktiv im Dialog und schockiert.

Antisemitische Schmiererei (dpa)
Antisemitische Schmiererei / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Fast ein Viertel der repräsentativ Befragten in NRW haben in unterschiedlichen Formen antisemitische Einstellungen. Fast die Hälfte aller Befragten will einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen. Überrascht Sie dieses Ergebnis der Studie? 

Professor Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bei seiner Ansprache. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Professor Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bei seiner Ansprache. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Prof. Jürgen Wilhelm (Vorstandsvorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit): Ja, in der Höhe schon. Das ist schon wirklich mehr als besorgniserregend, es ist alarmierend. Von der Substanz her aber ehrlich gesagt nicht. Das Thema, dass junge Menschen in einer nicht an der Geschichte und an der politischen Realität orientierten Weise auf rechte Parolen hereinfallen, kennen wir schon länger. Und Antisemitismus spielt auch auf dem Schulhof eine wichtige Rolle, indem offen antijüdische Parolen ausgesprochen werden. Das gehört zum gängigen Jargon von vielen jungen Menschen, offenbar ohne dass das wirklich kritisch reflektiert wird. Das wissen wir schon länger und wir sind darüber auch mit unseren Projekten und Programmen sehr intensiv mit vielen Schulen im Gespräch und auch mit der Landesregierung. Aber da müsste natürlich noch deutlich mehr getan werden.

DOMRADIO.DE: Es ist ja auch ein Ergebnis dieser Studie, dass es vor allem 16- bis 18-Jährige sind, die auffallend israelfeindlich eingestellt sind. Die Studie nennt das einen israelbezogenen Antisemitismus. Da spielen sicher auch die Hetzvideos auf TikTok und anderen Internetportalen eine große Rolle. 

Wilhelm: Sie benennen genau das Problem, das offenbar nicht konsequent genug angegangen werden kann oder angegangen wird, nämlich die Rolle der sozialen Netzwerke. Mittlerweile wird immer TikTok genannt. Die Algorithmen bedienen dann die, die das sehen wollen, immer wieder mit ähnlichen Inhalten. Da findet eine rasante Verbreitung statt, gegen die man mit klassischer Medienpolitik praktisch nicht ankommt. Wir müssen daraus die Konsequenzen ziehen und etwas dagegen tun. Die Parteien, die gesellschaftlichen Gruppierungen, auch wir als christlich-jüdische, müssen uns offenbar intensiver und vor allen Dingen professioneller um diese sozialen Netzwerke kümmern. 

Ursache großen Übels: TikTok (dpa)
Ursache großen Übels: TikTok / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wer hat denn da versagt? Die Familien, die Schulen? Irgendwas muss doch schiefgelaufen sein, dass es einen so weit verbreiteten Antisemitismus in Deutschland in diesen Tagen gibt. 

Wilhelm: Ich glaube, es hängt nicht nur an der Familie und auch nicht nur an der Schule, sondern es ist ein Konglomerat von sehr vielen Gründen. Und alle, die Sie genannt haben, gehören dazu. Unsere Bemühungen in Bildung und Ausbildung, das Thema Antisemitismus verpflichtend in allen Schulen der Sekundarstufe II in Nordrhein Westfalen zu etablieren, ist Jahre alt. Und alle Landesregierungen – die jetzige und die frühere – haben uns versichert, dass sie das genauso sehen und dass sie eine Lehrinhaltsveränderung als verpflichtend und notwendig erachten. Es ist bisher nichts geschehen. Das heißt, wir bleiben davon abhängig, ob die Lehrkräfte sich mit dem Thema befassen wollen, ob sie selbst engagiert sind und das mit den Schülerinnen und Schülern besprechen oder nicht. Und die meisten tun das offenbar nicht. Wir haben darüber keine Zahlen, vermuten aber, dass 70 bis 80 % der Schüler sich mit diesem Thema in den Schulen nicht in der richtigen und notwendigen Weise auseinandersetzen. Und natürlich müssen auch die Familien gegensteuern und mit ihren Kindern – die jetzt ja ab 16 Jahren wählen dürfen – darüber reden. Man hat das in Brandenburg gesehen: Wenn die jungen Leute mit 16 Jahren wählen dürfen, dann muss man ihnen auch zumuten, dass sie mit politischen Themen auf allen Ebenen – den formellen und den informellen in der Familie – konfrontiert werden. Damit sie auf diese Hetze und das Destruktive und das Ablehnende und das Negative, was ja da vermittelt wird, nicht hereinfallen. 

DOMRADIO.DE: Ansprechen müssen wir auch, dass 8 % der Befragten religiös-geprägte antisemitische Vorstellungen haben. Da gibt es auch ganz abstruse Verleumdungen: Zum Beispiel glaubt jeder achte Befragte, dass die jüdische Religion Gewalt gegen Kinder rechtfertige. 

Wilhelm: Das macht mich wirklich fast verrückt. Denn das ist ja schlimmstes Mittelalter. Da bin ich ehrlich gesagt auch sprachlos, ratlos. Die offizielle Kirchenpolitik der evangelischen und katholischen Kirchen ist da seit vielen Jahren sehr konstruktiv und wird auch von den allermeisten Christen so gelebt. Hier wird ein konstruktives und freundschaftliches Nebeneinander jüdischer und christlich-denkender Menschen  – oder Menschen, die diesem Glauben zugeordnet werden – befürwortet. Darauf habe ich also keine Antwort. 

DOMRADIO.DE: Was können wir denn aus einem christlichen Bewusstsein heraus tun, um diesem erschreckenden Hass gegen Juden etwas entgegenzusetzen? 

Wilhelm: Wir sollten allesamt das Thema noch offensiver besprechen. Es nützt ja nichts, es irgendwie zu leugnen oder es gar nicht anzusprechen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen offensiv damit umgehen. Wir von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit versuchen das mit unseren bescheidenen Mitteln ja auch. Wir haben auch Partner in den Sekundarstufen II. Es gibt schon Schulen – etwa in Köln und Umgebung – von denen wir wissen, dass sie das Thema systematisch ansprechen. Es wäre mal interessant zu wissen, ob das tatsächlich zu einem Erfolg oder zu anderen Ergebnissen führt. Das wissen wir empirisch nicht. Aber es gibt offenbar viele, viele Leerstellen in Nordrhein Westfalen, die es zu beackern gilt. Und der Startschuss kann nur von der Landesregierung und von den Curricula in den Schulen ausgehen. Den Rest muss die Gesellschaft leisten. Die etablierten bürgerlichen Parteien selbstverständlich auch.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR