Himmelklar: Sie waren vergangene Woche vor Ort im Flutgebiet. Sie haben mit den Menschen gesprochen und auch eine Andacht direkt am Fluss, an der Ahr gehalten. Was haben Sie da gesehen und erlebt?
Dr. Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Wir sind drei Tage unterwegs gewesen in den Gemeinden selber – in Euskirchen, in Ahrbrück, in Bad Neuenahr. Das ist der Ort, wo wir immer die Synode feiern, wo man gemerkt hat, das ist eine wirklich ganz verwüstete Stadt. Man kann das gar nicht anders sagen. Da sind Brücken weggerissen, Kirchen und Hotels überflutet. Das Innenleben der Häuser liegt auf der Straße, ganze Menschenleben und Erinnerungen sind da draußen. Man kommt in die Stadt rein und man riecht und sieht förmlich überall diese Zerstörung, die diese Schlammlawinen da angerichtet haben – mit einer Kraft, die man sich kaum vorstellen kann. Das war eine richtige Walze, die durch diesen Ort gegangen ist.
Dann hört man Geschichten von den Menschen dort, die einem wirklich nahe gehen. Es reicht schon eine 30 Zentimeter hohe Schlammlawine aus und man kommt nicht mehr heraus, man rutscht einfach weg. Da kamen Menschen und Tiere ums Leben. Das sind wirklich tief verstörende Bilder, die man da mitnimmt. Wir haben Gottesdienste gehalten, an dem Wochenende vor der Reise, dann aber auch vor Ort. Wir waren an einer Stelle, wo es früher einen Campingplatz an der Ahr gab. Es war ein sonniger Tag, die Ahr floss ganz friedlich nebenher, das hatte fast etwas Idyllisches. Nur wenn man sich umschaute, dann lagen da Bäume umgekippt, eine Straße, die weggerissen ist, dann eine Bohrmaschine, Besteck oder ein Bügeleisen, die irgendwo einfach so auf diesem früheren Campingplatz aus dem Boden herausragten. Ein wirklich skurriles Panorama. Für mich war das sinnbildlich dafür, wie die Kultur der Menschen, aber auch die Natur umgewälzt worden sind. Das sind Eindrücke, die alle, die dabei gewesen sind, tief bewegt haben.
Himmelklar: Was haben Ihnen die Menschen vor Ort erzählt? Die meisten Überschriften, die man im Moment liest, beschreiben ja diese unfassbare Hilfsbereitschaft.
Latzel: Erst mal muss man sagen, dass viele Menschen noch in der ersten Krisenreaktionsphase sind. Denen ist noch gar nicht so viel nach Reden zumute. Die packen einfach an. Die haben Schaufeln und Besen. Die sagen: Jeder Mensch, der keine schmutzigen Klamotten hat, kommt uns seltsam vor. – In den Gemeinden sind sehr viele Menschen und Rettungskräfte im Einsatz. Eine Frau drückte das sehr beeindruckend für mich aus. Sie sagte: "Ich habe nicht geweint, als die Flut kam. Ich habe erst geweint, als ich die Hilfe gesehen habe."
Ich bin sehr dankbar, dass vom Deutschen Roten Kreuz, von der Feuerwehr, THW, Bundeswehr, Polizei, unseren Notfallseelsorgerinnen ökumenisch alle vor Ort im Einsatz sind und versuchen, den Menschen bestmöglich zu helfen. Die Ortsgemeinden spielen dabei eine wichtige Rolle als eine Art Schaltzentrale, die jetzt erste Hilfe leisten. Ich bin selbst mit einer Notfallseelsorgerin unterwegs gewesen, um mit ihrem Bollerwagen den Leuten, die gerade beim Auskehren gewesen sind, Brötchen und Kaffee zu bringen. Und immer wieder fiel von ihr der Satz: "Viel Kraft!". "Viel Kraft!" Im Augenblick steht keine Interpretation oder Deutung an, sondern es geht darum, dass man einfach nur dem anderen Menschen etwas zuruft, ihm Mut macht.
Himmelklar: Sie haben mehrere Gedenkgottesdienste im Flutgebiet gefeiert. Wie war das?
Latzel: Ich war unter anderem bei einem ökumenischen Gottesdienst in Sinzig. Das ist der Ort, an dem dieses schreckliche Unglück in dem Wohnheim für behinderte Menschen passiert ist, bei dem zwölf Menschen ums Leben gekommen sind. Da sagte der Bürgermeister: "Das ist der erste Moment, in dem ich seit Tagen zur Ruhe komme und weinen kann." Wenn so ein Gottesdienst stattfindet, bricht auf einmal der Schutzmantel weg. Da muss man wirklich sehr vorsichtig mit umgehen, weil dann auf einmal die Emotionen hochkommen – und weil die Menschen den Schutz später wieder brauchen.
Wir haben einen Gottesdienst mit Bischof Ackermann zusammen in Trier gefeiert, da kam im Anschluss der Leiter der Feuerwehr zu mir und sagte: "Ich bin zwar eigentlich abdelegiert, aber der Gottesdienst war jetzt einfach für mich." Man spürt bei den Leuten ganz viel Hilfsbereitschaft. Ein Mensch meinte zu mir: "Ich habe den Glauben an die Menschheit wiedergewonnen."
Himmelklar: Wie sieht diese Hilfsbereitschaft aus?
Latzel: Da kommen auf einmal wildfremde Menschen, die man gar nicht kennt und packen einfach mit an. In Leverkusen erzählte mir eine Frau, es zogen die Ultras, die Fans von Bayer Leverkusen, durch die Straßen und fragten überall: Können wir was für euch tun? Dieses spontane Hilfsbereitschaft hat mich beeindruckt. Man spürt viel von dieser zwischenmenschlichen Nähe, aber eben auch von dem tiefen Leiden. Etwa, wenn man dann mit den Menschen hineingeht an ihren Arbeitsplatz und sieht, was da verloren gegangen ist, auch wenn draußen die Straßen schon wieder sauber sind. Das ist in den Häusern wie in den Menschen: Auch wenn außen manches schon wieder ordentlich aussieht, drinnen ist noch ganz viel Verletzung, Verwüstung – und es wird lange brauchen, bis das wieder anders geworden ist.
Wir waren mit Notfallseelsorgern im Einsatz in Schweinheim, wo die Menschen zum ersten Mal seit Tagen überhaupt in die Stadt zurückdurften: nur zu Fuß, um sich erst mal die Häuser wieder anzusehen und dann nur die verderblichen Lebensmittel wegzuwerfen. Danach mussten sie wieder rausgehen, weil es eben noch nicht sicher war. Weil die Kanalisation, die Wasser- und Stromleitungen, alles zerstört und kaputt waren. Das wird Monate dauern, bis das alles wieder in Stand gesetzt ist. Und das Skurrile dabei: Manchmal sind es nur ein paar wenige Meter, die zwischen Glück und Leid liegen. Oben auf dem Berg wohnen Menschen, die nicht tangiert worden sind und weiter normal ihren Rasen mähen. Dann kommen Menschen einige Meter bzw. Straßenzüge weiter runter, bei denen mit einem Mal wirklich alles überschwemmt worden ist. Überflutete Gärten und Häuser. Und unten im Tal ist schlicht nur noch Katastrophe, wo auch Menschen umgekommen sind. Man merkt wirklich, wie dicht das manchmal beieinander ist.
Himmelklar: Kanzlerin Merkel hat mehrmals die Sprachlosigkeit angesprochen, die es jetzt gibt. Die deutsche Sprache habe einfach keine Worte, diese Katastrophe angemessen zu beschreiben. Da geht es wahrscheinlich viel mehr ums Zuhören, oder?
Latzel: Das war mir persönlich sehr wichtig, als ich da hingefahren bin mit den Kollegen, dass wir da sind, um zuzuhören, zu stärken, zu trösten. Ich bin manchmal ein bisschen entsetzt darüber, wenn ich im Internet lese, was für theologisch-religiösen Deutungen dort zum Teil aufkommen. Das sind reine Schreibtischspekulationen, wenn Menschen da vom "Gericht Gottes" reden oder so etwas. Wenn ich den Leuten vor Ort in die Augen schaue, kann ich so nicht von Gott sprechen. Dort ist Gott für mich anders, mitleidend gegenwärtig: Christus im Schlamm. So kann ich das nur für mich fassen.
Ich habe eine Frau getroffen, die hatte in ihrem Keller ein Kruzifix von ihrer Großmutter gefunden und dann vom Schlamm abgewaschen. Das stand bei ihr auf einer roten Plastikbox drauf. Das war sinnbildlich für mich: Christus im Schlamm bei den leidenden Menschen, der gegen diese Chaosmächte ansteht. Es ist etwas völlig anderes, ob man vom trockenen Schreibtisch aus über das Leiden und die Katastrophe spekuliert und irgendwelche geschichtstheologischen Vermutungen anstellt – oder ob man wirklich den Menschen begegnet und bei ihnen ist.
Und so verstehe ich auch Kirche: Jetzt ist eine Kirche gefragt, die nahe bei den Menschen ist und eben nicht nur einen Besuch abstattet, sondern wirklich alles versucht, was wir dazu beitragen können, Menschen zu helfen und dicht bei ihnen zu sein an der Stelle.
Himmelklar: Ihr Besuch vor Ort war in der vergangenen Woche, das war aber der zweite in kurzer Zeit. Anfang Juli sind Sie bei einer Sommertour vom Saarland bis zum Niederrhein geradelt, um Ihre neue Landeskirche kennenzulernen. Das heißt, Sie waren in vielen Flutorten schon kurz der Katastrophe. Bestimmt ein merkwürdiges Gefühl.
Latzel: Ja, wir hatten kurz vorher die "Sommertour der Hoffnung". Acht Tage. Wir haben über 600 Kilometer mit dem Rad zurückgelegt, 40 Gemeinden angesehen. Wir waren ja alle in der Gesellschaft müde und erschöpft nach Corona war – und unsere Botschaft war: "Wir brechen gemeinsam auf nach Corona!“ Eine Sommertour der Hoffnung. Da gab es sehr viele schöne Begegnungen, die man sich unter dem Hashtag #sommertourderhoffnung anschauen kann (https://praesesblog.ekir.de/sommertourderhoffnung/). Es waren beeindruckende Menschen, die uns ihre Hoffnungsgeschichten erzählt haben. Auch dabei galt: Nicht wir bringen die Hoffnung, sondern wir entdecken die Hoffnung bei den Menschen. Gott ist immer schon bei den Menschen.
Viele von den Orten waren dann die, die auch später leider von der Flut, der Überschwemmung betroffen gewesen sind: Eine Woche später kommt man hin und sieht die gleichen Orte in einem katastrophalen Zustand. Ich glaube, dass das Thema Hoffnung aber gerade jetzt etwas ist, was in dieser Katastrophe eine zentrale Rolle spielt. Hoffnung ist ja etwas ganz anderes als Optimismus, etwas, was mir wider den Augenschein Mut und Kraft verleiht. Hoffnung ist etwas, was man immer nur zusammen angehen kann - das habe ich auf der Tour auch gelernt. Das Hoffen führt einen in Gemeinschaft. Und es macht einen nicht passiv, sondern lässt einen gerade alles tun, was man selber tun kann – im Vertrauen darauf, selbst gehalten zu sein und von Gott Stärke zu erfahren.
Das erlebe ich auch immer wieder: Wie wichtig dieses Gefühl ist, gerade wenn der Boden unter meinen Füßen wegbricht. Wenn ich auf einmal merke: Ein ganzes Haus schwimmt weg, mein Nest, mein ganzer Halt. Was hält mich dann eigentlich selber? Das ist ja eine der Aufgaben, die unsere Notfallseelsorgerinnen in beeindruckender Weise erfüllen: den Menschen zunächst einmal wieder Sicherheit zu geben, Halt zu vermitteln – und danach dann auch den Raum für Selbstwirksamkeit zu verschaffen: Ich kann etwas tun, ich kann aufstehen, ich kann mich wieder aufrichten. Also unsere gelebte Auferstehungshoffnung aus dem Tod heraus, sich gegen solche Chaosmächte zu stemmen. Das stärken wir in solchen Krisen-Situationen. Gerade in dieser Katastrophe sieht man, wie wichtig es ist, den Menschen Kraft, Trost und Halt zu geben.
Himmelklar: Das ist eigentlich schon fast eine Lexikon-reife Definition des Begriffes Hoffnung.
Latzel: Ich habe Theologie studiert, promoviert, aber diese Erfahrungen verändern aktuell mein eigenes theologisches Denken nachhaltig, wenn man sich wirklich in die Begegnung mit Menschen gibt und sie nach ihren Geschichten fragt – im Positiven wie bei der Fahrradtour, aber auch im Kritischen wie bei der Überschwemmung. Hoffnung hat für mich, theologisch gesprochen, etwas Kontrafaktisches: Sie ist wie das Singen der Vögel mitten in der Nacht, wenn noch nichts vom neuen Tag zu spüren ist.
Es geht darum eine Widerstandskraft, eine innere Freiheit zu gewinnen. Wenn Sie in einer Stadt wie in Bad Neuenahr sind, wo wirklich ringsum alles Chaos ist: Was hilft mir, die Kraft zu gewinnen, wieder aufzustehen an dieser Stelle? Da sind es eben diese kleinen Sätze wie "Viel Kraft" oder der Segen des anderen, dass jemand kommt und einfach da ist. Dabei spielt für mich gerade unser Glaube eine große Rolle. Er besagt ja zutiefst genau das: Wider den Augenschein aufzustehen, also Hoffnung aus dem Tod heraus – dafür steht das Kreuz bei uns. Deswegen: Christus im Schlamm – genau dort ist er für mich zurzeit gegenwärtig.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Der Podcast Himmelklar ist ein überdiözesanes Podcast-Projekt, koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.