epd: Nach 100 Tagen im Amt: Wie fällt Ihre erste Bilanz aus?
Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Ich bin in der großen rheinischen Kirche mit ihren 37 Kirchenkreisen sehr gut aufgenommen worden und habe seit meinem Amtsantritt im März viele Gespräche geführt - auch mit Vertreterinnen und Vertretern von Politik, Ökumene, Judentum und Islam. Dabei habe ich viel gelernt und mit Blick auf nötige Veränderungen eine große Bereitschaft zum Aufbruch erlebt. Im Juli fahre ich mit dem Fahrrad von Saarbrücken bis zum Niederrhein mehr als 600 km quer durch die Landeskirche, um Hoffnungsgeschichten in 40 Gemeinden vor Ort zu sammeln. Ein Rad-Pilgern, um Menschen und Gott zu begegnen.
epd: Was sind die zentralen Aufgaben und Herausforderungen für die Kirche der Zukunft?
Latzel: Mir sind drei Themen grundsätzlich wichtig: Hoffnung vermitteln, unsere Gesellschaft nach Corona stärken und Kirche stärker an den Mitgliedern orientieren. Ich möchte, dass wir als Kirche Menschen geistliche Hoffnung vermitteln. Nach der Corona-Pandemie können wir in einer verletzten und erschöpften Gesellschaft so zu positiven Veränderungen und einem solidarischen Miteinander beitragen. Und wir sind gefragt, stärker Kontakt zu den Menschen zu halten.
epd: Mit Blick auf sinkende Mitglieder- und Einnahmezahlen haben Sie kürzlich gesagt, das Modell Volkskirche habe ausgedient. Was kommt stattdessen?
Latzel: Es wird weiter eine verlässliche Grundversorgung in den Gemeinden geben. Aber wir sind in einem tiefen Transformationsprozess, in dem wir unsere Gestalt grundlegend verändern werden. Wir denken Kirche von ihrem Auftrag und vom Kontakt zu den Menschen her, nicht von überlieferten Strukturen. Wir werden mehr Schwerpunkte bilden und neue digitale Kommunikationswege nutzen.
Wichtiger werden auch Kooperationen zwischen den Gemeinden, aber auch mit Partnern in der Ökumene und der Zivilgesellschaft. Behördliche Strukturen wollen wir zurückfahren und stärker zu einer Organisation werden, die Menschen in ihren Lebenswelten wie Schule, Familie und Beruf begleitet. Dabei wird es keinen übergreifenden Masterplan geben, sondern unterschiedliche Lösungen vor Ort. Die verschiedenen kirchlichen Berufsgruppen, aber auch Ehrenamtliche dürfen und sollen Verantwortung übernehmen. Auch neue Gemeindeformen wie die von der Landeskirche geförderten Erprobungsräume sorgen für Innovation.
epd: Verträgt sich mit einem grundlegenden Wandel von Kirche noch das Berufsbeamtentum von Theologen und Juristen, bei dem finanzielle Verpflichtungen für künftige Generationen eingegangen werden?
Latzel: Wir fragen, was wir brauchen, um in 15, 20, 30 Jahren gut Kirche sein und das Evangelium von Jesus Christus glaubhaft verkündigen zu können. Das Berufsbeamtentum ermöglicht Pfarrerinnen und Pfarrern große Freiheit und Unabhängigkeit, dazu gehören auch kreatives, unternehmerisches Denken und Eigenverantwortung.
epd: Wie sehen Sie die Zukunft der Kirche in der Gesellschaft?
Latzel: Die Evangelische Kirche im Rheinland ist gerade von ihrem geistlichen Selbstverständnis und von ihrer Orientierung an der Bibel her politisch wach und gesellschaftlich engagiert. Deshalb bringen wir uns auch künftig von unserem christlichen Glauben her in allgemeine Diskussionen ein. Das gilt etwa für den Umgang mit Flüchtlingen, bei dem es ein starkes Politikversagen gibt, aber auch bei Fragen von Schöpfungsverantwortung, Gerechtigkeit und sozialer Teilhabe. Hier sind wir ja zum Beispiel mit der Diakonie stark engagiert.
epd: Mit der Bundestagswahl im Herbst werden wichtige Weichen gestellt. Was sind entscheidende Themen und welchen Kurs erhoffen Sie sich von der künftigen Bundesregierung?
Latzel: Ich hoffe zunächst einmal, dass bei der Wahl die Demokratie gestärkt wird und solche Parteien großen Zuspruch erhalten, die verantwortlich mit dem Gemeinwesen umgehen - keine Parteien, die auf soziale Spaltung setzen. Wichtig wird sein, wie mit den Verletzungen und Belastungen aus der Corona-Pandemie umgegangen wird, ob die Lasten gemeinsam getragen werden.
Ein zentrales Zukunftsthema ist die Schöpfungsverantwortung, insbesondere der Klimaschutz. Die digitale Kommunikation muss menschenfreundlich und sozialverträglich gestaltet werden. Wichtig ist auch, dass wir uns von nationalen Egoismen verabschieden und stärker europäisch und global denken und handeln, vor allem im Hinblick auf weltweite Gerechtigkeit. Das alles sind Punkte, die unabhängig von Parteien aus Sicht des christlichen Glaubens wichtig sind.
epd: Klimaschutz haben sich fast alle Parteien auf die Fahnen geschrieben, ist das ein Selbstläufer?
Latzel: Das ist kein Selbstläufer, weil es auch um Veränderungen des Konsumverhaltens und des persönlichen Lebensstils geht. Gerade hier kommt der Glaube ins Spiel. Es gibt Gott sei Dank ein Bewusstsein für die Dringlichkeit des Problems, auch in der Wirtschaft. Die künftige Bundesregierung muss das Thema intensiv angehen, aber auch darauf achten, dass es nicht zu neuen sozialen Spaltungen kommt.
epd: Rund um das Spiel Ungarn gegen Deutschland bei der Fußball-EM wurde darüber gestritten, ob das Stadion in München als Symbol für Toleranz und Akzeptanz in Regenbogen-Farben leuchten darf. Wie wichtig sind Symbole für Vielfalt und gegen Rassismus, auch im Sport?
Latzel: Alle Menschen gleich welcher Herkunft oder religiösen oder sexuellen Orientierung müssen in der Gesellschaft die gleiche Wertschätzung erfahren. Dafür stehen wir als Evangelische Kirche im Rheinland. Und es ist gut, dass es in Deutschland dafür ein starkes Bewusstsein gibt. Der Sport hat einen Vorbildcharakter und Symbole und klare Haltungen können hier starke Zeichen setzen. Darüber hinaus muss sich aber auch das Alltagsbewusstsein ändern, so dass es die normale gelebte Kultur ist, dass Menschen eine unterschiedliche sexuelle Orientierung haben.
epd: Muss Vielfalt auch in der Kirche stärker zum Ausdruck kommen? Was halten Sie etwa von dem Vorschlag, eine Quote für "People of Color" in kirchlichen Gremien und Leitungsämtern einzuführen?
Latzel: Wir wollen Menschen unterschiedlichster Herkunft in unserer Kirche beheimaten und engagieren uns dafür, die Diversität auch in unseren Leitungsgremien zu stärken. Die Gemeinden haben allerdings derzeit nicht das Problem einer fehlenden Quote, sondern müssen schauen, dass sie überhaupt genügend Menschen finden, die sich an dieser Stelle engagieren wollen. Wer sich hier einbringen möchte, kann dies in aller Regel auch tun.
epd: Wie sollte mit Literatur, auch kirchlicher, umgegangen werden, in der aus heutiger Sicht rassistische, sexistische oder antisemitische Stereotypen vorkommen: aus dem Verkehr ziehen, korrigieren, interpretieren?
Latzel: Es ist gut, dass ein Bewusstsein für Vielfalt und Pluralität entstanden ist, die auch sprachlich angemessen abgebildet werden sollen. Hier muss aber im Einzelfall genau hingeschaut werden. Wenn wir jetzt anfangen, jedes Kunstwerk nach unseren Zeitauffassungen zu redigieren, werden wir ziemlich viele schwarze Balken haben. Wenn ein Text nicht massiv kontaminiert ist, können häufig Interpretation und der richtige Rahmen ein angemessener Umgang sein.
epd: Der Missbrauchsskandal und die teils schleppende Aufklärung bescheren den Kirchen einen großen Vertrauensverlust. Wie gehen Sie damit um?
Latzel: Wir setzen alles daran, weiteren Missbrauch so gut es nur irgend geht zu vermeiden, und setzen daher auf umfassende Prävention. Alle beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitenden werden geschult und müssen regelmäßig Führungszeugnisse vorlegen. Jede kirchliche Einrichtung muss zudem ein Präventionskonzept vorlegen. Wir haben Anlaufstellen für Betroffene und klare juristische Verfahren. Betroffene, die sich melden, erhalten Beratung und eine finanzielle Anerkennung ihres Leids. Der dritte wichtige Punkt ist die Aufarbeitung durch verschiedene Untersuchungen, auch Einzelfall-Studien. Das ist schwierig, weil die Aktenlage allein oft nicht ausreicht, um Fälle von Missbrauch zu entdecken.
epd: Im Fokus steht überwiegend die katholische Kirche. Wo sehen Sie auf protestantischer Seite Versäumnisse?
Latzel: Es gibt auch bei den evangelischen Kirchen ein institutionelles Versagen und die Aufarbeitung hätte viel früher beginnen müssen. Während es bei den Studien der katholischen Kirche um Missbrauch durch Kleriker geht, befassen sich die Studien in der evangelischen Kirche mit allen Mitarbeitenden. Hier gab es Fälle bei Ehrenamtlichen wie Beruflichen, ein besonderer Fokus bei Geistlichen lässt sich nicht erkennen.
epd: Der Betroffenenbeirat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurde nach dem Rücktritt mehrerer Mitglieder ausgesetzt, sie fühlten sich nicht angemessen beteiligt und unterstützt.
Latzel: Es war und ist wichtig, dass wir das Missbrauchsthema transparent, unabhängig und gemeinsam mit den Betroffenen aufarbeiten. Nach dem vorläufigen Scheitern des Beirats fragt sich, ob ein solches Gremium das richtige Instrument war. Die Mitglieder waren keine homogene Gruppe, sondern hatten zurecht unterschiedliche Bedürfnisse und Anliegen. Vielleicht müssen wir stärker in jedem Einzelfall hören, was die Anliegen der Opfer sind.
epd: Ist mehr externe Aufarbeitung nötig?
Latzel: Ja. Es gibt eine gemeinsame Untersuchung auf EKD-Ebene, darüber hinaus bereiten wir in der rheinischen Kirche die Aufarbeitung von Einzelfällen vor. Auf jeden Fall brauchen wir die Expertise anderer Menschen. Wir wollen an dieser Stelle eine wirkliche Transparenz haben.
epd: Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx hat seinen Rücktritt angeboten, um auch persönlich Verantwortung für sexuellen Missbrauch durch Amtsträger zu übernehmen. Ist diese Art der Verantwortungsübernahme wichtig - auch in der evangelischen Kirche?
Latzel: Kardinal Marx hat ein wichtiges und starkes Zeichen gesetzt. Die Frage, wie jemand individuelle Verantwortung übernimmt, muss jede Leitungsperson für sich selbst entscheiden.
Das Interview führte Ingo Lehnick.