Keine Mottowoche und auch kein Abi-Ball?

"Das Abitur ist ein unverzichtbares Abschlussritual"

Es war eine Zitterpartie. Aber nun steht es fest: Die Abiturprüfungen sollen wie geplant stattfinden. Darauf haben sich jetzt die Kultusminister der Länder geeinigt. Für viele Schüler ist das auch eine Chance, ihren Schnitt noch einmal zu verbessern.

Abiturprüfungen werden verschoben / © Fabian Strauch (dpa)
Abiturprüfungen werden verschoben / © Fabian Strauch ( dpa )

Kerim träumt von einer Bühnenkarriere als Konzertpianist. Beethoven-Sonaten, Chopin-Etüden, Liszt-Balladen – das ist seine Welt. Drei bis vier Stunden täglich übt er dafür. "Aber es können auch schon mal locker acht werden, je nach dem", lacht er. Im Frühherbst will der 18-Jährige die Aufnahmeprüfung an der Kölner Musikhochschule machen. Seit drei Jahren nimmt er dort bereits Unterricht und wird individuell gefördert. Doch selbst bei seiner Ausnahmebegabung und der Leidenschaft, mit der er seit frühester Kindheit Klavier spielt, ist die allgemeine Hochschulreife die Vorbedingung für sein Musikstudium. Kerim ist daher froh, dass nach den tagelangen Diskussionen um das Abitur nun endlich eine Entscheidung gefallen ist. "Diese Ungewissheit, ob oder ob nicht, hat mich schon mürbe gemacht", räumt er ein, "auch wenn die Befürchtungen einer Infektionsgefahr während der Prüfungen natürlich ernst genommen werden müssen."

Der junge Mann deutsch-türkischer Herkunft ist ein sehr guter Schüler und hat vielseitige Interessen. Psychologie, Kunst und Philosophie, aber auch die Beschäftigung mit den Religionen Christentum und Islam gehören dazu. "Eben alles, was eine intellektuelle Debatte erfordert." Schon jetzt liegt sein Notendurchschnitt im oberen Einser-Bereich. Trotzdem sei noch etwas Luft nach oben, meint er ganz uneitel. Und diese Chance wolle er nutzen. Denn wenn alles wunschgemäß laufe, sei im Abi auch ein Numerus clausus von 1,0 möglich.

Jedenfalls arbeitet Kerim zielstrebig darauf hin, seine bisherigen Ergebnisse noch zu toppen. Das könne von Vorteil sein, wenn er sich um ein Stipendium bewerben wolle. Denn hier müsse man in jedem Fall mit außerordentlichen Leistungen punkten. Und auf eine finanzielle Unterstützung Richtung Traumberuf sei er nun mal angewiesen. Musikerpersönlichkeiten wie Daniel Barenboim, der mit seinem West-Eastern Divan-Orchestra aus Juden, Christen und Muslimen einen wichtigen Beitrag zum interkulturellen und interreligiösen Dialog in der Gesellschaft leiste, würden ihm ungemein imponieren. "An einem solchen Projekt irgendwann einmal mitzuarbeiten, kann ich mir auch für mich gut vorstellen."

"Das Leben steht gerade auf dem Kopf"

Auch Kerims Freund Aurelius zeigt sich erleichtert, dass die Abi-Prüfungen am Bensberger Albertus Magnus-Gymnasium nun doch nicht der Corona-Krise zum Opfer fallen. Allerdings hadert er damit, dass er sich weder von den Lehrern noch von seinen Mitschülern angemessen verabschieden konnte. "Von einem Tag auf den anderen war einfach Schluss. Nicht einmal einander richtig ‚Tschüß’ sagen konnten wir am letzten Schultag. Alles ging so schnell", bedauert der 17-Jährige den plötzlichen Beziehungsabbruch. "Mir hätte etwas Wesentliches gefehlt, wenn nun auch noch das Abitur ausgefallen wäre. Schließlich habe ich meine ganze Schullaufbahn auf diesen entscheidenden Moment hingelebt. Jetzt soll auf den letzten Metern auch das große Finale stattfinden", sagt er. Wie Kerim will auch Aurelius auf der Zielgeraden noch einmal richtig Gas geben, um seinen Schnitt zu verbessern. "Ein letztes Mal unter Beweis stellen, wofür ich in den vergangenen Monaten und Wochen so gepaukt habe – das spornt mich an. Nichts soll umsonst gewesen sein, auch wenn das Leben gerade auf dem Kopf steht."

Dass das noch lange nicht alle so sehen und sich manch einer gerne vor dieser Herausforderung drücken würde, weiß Aurelius aus den vielen Telefonaten, die er zurzeit mit seinen Mitschülern in der Funktion als stellvertretender Schülersprecher führt. Dann macht er ihnen Mut, dass eine solche Prüfungssituation nun mal zum Leben dazu gehöre und in jedem Fall eine gute Übung für später sei. Ob es dann bei der Bewerbung um einen Studien- oder Ausbildungsplatz wirklich auf das letzte Zehntel ankomme, müsse man dann immer noch sehen, erklärt er. Aber acht Jahre Gymnasium ohne richtigen Abschluss – das könne er sich nicht wirklich vorstellen. Deshalb hoffe er inständig, dass nach der Motto-Woche nicht auch noch der Abi-Ball abgesagt werde und es allen Grund gebe, am Ende noch einmal so richtig auf die Pauke zu hauen und die Zeugnisübergabe mit einem unvergesslich fröhlichen Fest zu zelebrieren.

Doch nicht nur diese große Feier, auf die sich die gesamte Q2 seit langem freut, auch alle weiteren Planungen des angehenden Abiturienten hängen erst einmal in der Luft. Denn ob die Zusage von MISEREOR für den Freiwilligendienst in Bolivien, zu dem sich Aurelius angemeldet hat, gehalten werden kann, wird sich noch zeigen. "Gerade die Menschen in Südamerika, vor allem die Ärmsten unter ihnen, sind schwer von dem Virus betroffen. Angesichts der erschütternden Nachrichten aus diesem Kontinent über Hunger und mangelnde medizinische Versorgung sind da meine persönlichen Pläne erst einmal zweitrangig, wenn nicht gar bedeutungslos", sagt er. "Dann muss eben Plan B her."

Für ausreichenden Schutz vor Ansteckung beim Abi ist gesorgt

Dass in Zeiten von Corona immer nur von einem Tag auf den anderen geplant werden kann, weiß Rolf Faymonville, Schulleiter am Albertus-Magnus-Gymnasium, nur allzu gut. Unentwegt hat er in den vergangenen zwei Wochen die sich überschlagenden Neuigkeiten und Entscheidungen aus dem Schulministerium in Mitteilungen an die Eltern aller Jahrgangsstufen weitergeleitet und sich in Videokonferenzen mit den rund 100 Lehrern seiner Schule bei der Organisation der Unterrichtsmaterialien via online engmaschig abgestimmt. Außerdem musste er auch immer wieder auf die vielfach geäußerten Sicherheitsbedenken der Eltern eingehen, solange noch in der Schwebe war, ob das Abitur überhaupt stattfinden würde, und wenn ja, ob dann auch die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz vor Ansteckung getroffen werden könnten.

"Am Ende war es die richtige Entscheidung, das Abitur bundesweit stattfinden zu lassen", findet Faymonville. Er habe von Anfang an keine Bedenken gehabt, mit der Aufteilung weniger Schüler auf eine Vielzahl von Klassenräumen für ausreichenden Schutz beim Abi sorgen zu können. "Hinzu kommt, dass auch die Schüler gut vorbereitet sind. Selbst wenn insgesamt 15 Unterrichtstage ausgefallen sind, haben sie eigentlich alles gelernt, was sie fürs Abi brauchen. Und nun wollen sie auch zeigen, dass das fleißige Büffeln in den letzten Monaten nicht sinnlos war." Auch wenn zwei Drittel der Abiturnote bereits durch die Leistungen in den Kursen erbracht seien und sich aus den bisherigen Klausuren der Prüfungsfächer eine Abschlusspunktzahl berechnen ließe, sei das Ganze ja auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber vorangegangenen Jahrgangsstufen. Von daher sei er froh, dass es nun so ausgegangen sei.

"Ein zentraler Abschluss ist wichtig für die Fairness und Vergleichbarkeit", betont der Pädagoge. Es gehe darum, das Gesamtpaket des aktuellen Wissensstands abzurufen – auch um mit einem solchen Nachweis auf ein mögliches Studium vorbereitet zu sein. "Genau das wollen die meisten Schüler aber auch: im Abi noch einmal zeigen, was sie drauf haben. Außerdem ist es wichtig – wie bei jedem anderen Lebensabschnitt auch – einen guten Abschluss zu finden, um dann auch einen Schlusspunkt setzen zu können." Eine Anerkennung für erbrachte Leistung zu bekommen, sei für junge Menschen ganz wesentlich. "So gesehen, ist das Abitur ein unverzichtbares Abschlussritual."


Der angehende Abiturient Kerim Wirth will Pianist werden / © Beatrice Tomasetti (DR)
Der angehende Abiturient Kerim Wirth will Pianist werden / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Rolf Faymonville, Schulleiter in Bensberg und Diakon im Nebenberuf / © Beatrice Tomasetti (DR)
Rolf Faymonville, Schulleiter in Bensberg und Diakon im Nebenberuf / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Aurelius Gatzweiler hofft auf einen Auslandseinsatz in Bolivien / © Beatrice Tomasetti (DR)
Aurelius Gatzweiler hofft auf einen Auslandseinsatz in Bolivien / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR
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