Das Kyrie hatte ursprünglich eine andere Bedeutung

Kläglicher Ruf ums Erbarmen oder Lobpreis?

Oft beginnt der gesprochene Teil der Sonntagsmesse nach der Begrüßung mit "Herr, erbarme dich"-Sätzen als Kyrie. Der Theologe Michael Pfeifer kritisiert die inhaltliche Engführung dieses Messteils und verweist auf antike Vorbilder.

Gebet / © Doidam 10 (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Zu Beginn der Messe steht der Bußakt. Mittlerweile wird das Kyrie vielerorts als Bestandteil dieses Elementes angesehen. Warum ist das Ihrer Meinung nach nicht so?

Theologe und Kirchenmusiker: Michael Pfeifer / © privat
Theologe und Kirchenmusiker: Michael Pfeifer / © privat

Michael Pfeifer (Theologe, Kirchenmusiker und Referent für liturgische Bildung im Bistum Würzburg): Die Probleme beginnen mit der Übersetzung. Wenn ich "Kyrie eleison" ins Deutsche übertrage, habe ich mit "Herr erbarme dich" tatsächlich die Schublade der Schuld und Vergebungsfrage aufgezogen.

Meine Hoffnung ist, dass wir das Kyrie in der Originalform benutzen, so wie wir das Hosanna in der Liturgie ja auch unübersetzt lassen. Wenn wir es übersetzen wollten, hieße es: Hilf doch! Und dann wären wir in einem ähnlichen Malheur wie beim Kyrie eleison.

Michael Pfeifer

"Wenn ich jemanden um Erbarmen bitte, muss ich ihm auch zutrauen, dass er Erbarmen gewähren kann."

Aber das Kyrie als Lobpreis zu verstehen, leitet sich schon daher ab, weil wenn ich jemanden um Erbarmen bitte, muss ich ihm auch zutrauen, dass er Erbarmen gewähren kann.

Wenn ich Sie um 100 Euro anbettle, muss ich annehmen, dass Sie 100 Euro in der Tasche haben, dass Sie also ein reicher Mann sind. Das ist schon eine Form von Kompliment und ähnlich muss man das mit dem Kyrie eleison eben auch verstehen.

DOMRADIO.DE: Woher kommt das historisch, dass das Kyrie eben kein sozusagen "kläglicher" Erbarmensruf, sondern ein Huldigungsruf ist?

Pfeifer: Der Einzug des Herrschers in die Stadt der antiken Welt war immer begleitet von der Bevölkerung, die ihm entgegen zieht und die ihm eben zuruft: Kyrie eleison! Das war der typische Lobruf des "Adventus Domini" wie es in der Fachsprache heißt, also dieser Einzug des Herrschers in seine Stadt. Das kann der Kaiser oder sein Statthalter gewesen sein. Dieser Ruf erscholl in dieser antiken Stadtgesellschaft als Lob- und Begrüßungsruf an den Herrscher.

DOMRADIO.DE: Am Beginn einer Messe steht die besagte Gewissenserforschung. Warum ist die in unserer Wahrnehmung nahezu mit dem Kyrie verschmolzen?

Pfeifer: Es gibt im Messbuch tatsächlich drei verschiedene Formen des Bußaktes.

Zum einen das klassische "Confiteor" "Ich bekenne Gott den Allmächtigen". Dann mit dem Zweiten Vatikanum wurde ein kleines Wechselgebet eingeführt, das aus Psalmworten zusammengesetzt ist: "Erbarme dich unser Gott, erbarme dich, denn wir haben vor dir gesündigt."

Messbuch / © Jan Hendrik Stens (DR)
Messbuch / © Jan Hendrik Stens ( DR )

Und als dritte Variante und das ist tatsächlich die Ursache unserer Fragestellung heute gibt es die sogenannte Form C, bei der das Kyrie, meistens verbunden mit Tropierungen - also mit Anrufungen Jesu Christi -, als Sündenvergebungssruf verstanden wird und dann entsprechend auch mit einer Bitte um Sündenvergebung abgeschlossen wird.

DOMRADIO.DE: Das hat sich so in den letzten Jahrzehnten in vielen Gemeinden etabliert. Aber warum sollte man das Kyrie überhaupt als einen solchen Ruf wiederentdecken? Was "bringt es" aus pastoraler Sicht gefragt?

Pfeifer: Es gibt mehrere Gründe und auch Möglichkeiten, dieses Schuldbekenntnis an der Messe nicht zu stark zu betonen.

Das Messbuch sieht da einiges, zum Beispiel wenn eine besondere Festlichkeit des Gottesdienstes das nahelegt, oder wenn der Ruf "Herr, erbarme dich" schon im Eingangslied erscholl oder wenn es ein Taufgedächtnis zu Beginn der Sonntagsmesse platziert. 

Michael Pfeifer

"Ich glaube, dass es am Beginn der Messe einfach ein festlicheres Entree schafft, wenn wir uns vorstellen: Christus ist in unserer Mitte, ihn begrüßen wir und singen ihm festlich dieses Kyrie eleison zu"

In all diesen Fällen kann das Kyrie weggelassen werden und damit eben auch der ganze Komplex der Schuldvergebung.

Ich glaube, dass es am Beginn der Messe einfach ein festlicheres Entree schafft, wenn wir uns vorstellen: Christus ist in unserer Mitte, ihn begrüßen wir und singen ihm festlich dieses Kyrie eleison zu -  wie eben dem antiken Herrscher beim Adventus Domini.

DOMRADIO.DE: Und das Interessante ist ja auch, dass das Kyrie nicht nur immer so verwendet wird, wie das jetzt meistens im Moment in der heiligen Messe der Fall ist, sondern es gibt ja eine relativ neue Gottesdienstform, nämlich die sogenannte Wort Gottes-Feier, die keine Eucharistiefeiern ist. Da wird das Kyrie anders behandelt, nämlich wie?

Pfeifer: In der Wort Gottes-Feier gibt es keinen Bußakt zu Beginn und kein Gloria. Das Kyrie ist das einzige musikalische Element im Eröffnungsteil und kann dadurch auch eine ganz andere Betonung erfahren. Eingeleitet wird es klassisch nach der Gottesdienstordnung so: Wir begrüßen den Herrn in unserer Mitte und singen ihm Kyrie eleison zu.

Weihrauch steigt auf bei einer Wort-Gottes-Feier am 5. November 2021 in der Kirche Sankt Marien in Bonn. / © Harald Oppitz (KNA)
Weihrauch steigt auf bei einer Wort-Gottes-Feier am 5. November 2021 in der Kirche Sankt Marien in Bonn. / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Jetzt sind ja die Messstelle seit Jahrhunderten vertont worden. Gibt es da eigentlich Kompositionen aus Ihrer Erfahrung, die den Charakter als Huldigungsruf im Kyrie einigermaßen treffen?

Pfeifer: Es gibt wenige, die das tatsächlich so verstehen. Dann nämlich immer, wenn das Kyrie auch als Eingangsgesang verwendet wird. Und das ist bei den klassischen Mess-Kompositionen ja durchaus der Fall, also die lateinische Liturgie, die sich gewissermaßen parallel zur musikalischen Liturgie entfaltet.

Da überdeckt das Kyrie den Einzug, das Schuldbekenntnis, also das Stufengebet bis hin zum durch den Priester gesprochene Kyrie.

Aber es ist tatsächlich ein Leid, das weder die Mess-Vertonungen der klassischen Komponisten oder auch der Moderne noch auch unser Gotteslob entsprechende musikalische Elemente bereitstellt, die diesem Huldigungsruf entsprechen. Es sind etwa über 30 Kyrie-Vertonungen im Gotteslob, aber ich finde da eins, zwei Vertonungen, die diesen Charakter treffen. Alle anderen sind sehr ruhige, meist modale Melodien, die dann doch wieder eher die Schublade "Schuld und Vergebung" aufziehen.

DOMRADIO.DE: Und aus dem Bereich der Chorliteratur, welche Messe, würden Sie sagen, trifft's also am ehesten?

Pfeifer: Ein schönes Beispiel ist eine Messe von Heinrich von Herzogenberg, einem spätromantischen Komponisten, der den Auftakt des Kyrie "bombastisch" komponiert hat. Da merkt man, dass es ein wunderbares Entree in eine feierliche Messe ist.

DOMRADIO.DE: Sie sind ja auch selber aktiver Kirchenmusiker. Was wünschen Sie sich denn von Ihren Kolleginnen und Kollegen, damit das Kyrie wieder den Begrüßungs- und Huldigungscharakter erhält? Was können die machen? Was können die aktiven Musiker vielleicht daran ändern?

Pfeifer: Sie haben recht. Ich habe selber aus der Not heraus mir schon das eine oder andere selber geschrieben, weil ich mit dem, was ich vorgefunden habe, nicht zufrieden war.

Gotteslob auf einer Kirchenbank / © Harald Oppitz (KNA)
Gotteslob auf einer Kirchenbank / © Harald Oppitz ( KNA )

Bei vielen anderen Gelegenheiten, bei denen wir Gottesdienste zum Beispiel fürs Fernsehen produziert haben, habe ich dann die Kollegen auch angesprochen: Such doch mal ein pfiffiges, ein schwungvolle Kyrie aus. Das hat viele tatsächlich auch vor Probleme gestellt. Aber es sind auch ein paar schöne kleine "Perlen" zutage getreten. Ja, und da generell mal zu sagen: ich komponiere mal etwas, was auch für die Gemeinde tauglich ist, was vielleicht im Kontext einer Litanei zum Einzug am Beginn der Messe gesungen werden kann, wo man zum Beispiel alternierend mit Psalmversen die Gemeinde zu einem festlichen Kyrie-Ruf anstiftet.

Das ist dann ein schöner Einzug in den Gottesdienstraum, der begleitet wird von diesem Huldigungsruf Kyrie eleison - natürlich in der griechischen Originalsprache. Ich glaube, das ist dann ein sehr sinnenhaftes Erlebnis und man versteht viel schneller, um was es bei dem Ruf Kyrie eleison geht.

Das Interview führte Mathias Peter und wird am Sonntagabend ab 20 Uhr im Radioprogramm von DOMRADIO.DE in der Sendung "Musica" ausgestrahlt.

Liturgie

Liturgie bezeichnet im Christentum und Judentum das Verständnis und die Ordnung der Zeremonien des Gottesdienstes. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt öffentlicher Dienst. Neben der Heiligen Messe gehören dazu beispielsweise Taufe, Trauung oder Bestattung. Die Formen, Regeln und Vorschriften der römischen Liturgie haben sich im Lauf der Jahrhunderte verändert; grundsätzlich legt der Papst sie fest. Dazu zählen etwa die Vorgabe bestimmter Gebete oder Regeln zum Ablauf des Gottesdienstes sowie Form und Farbe von Messgewändern.

Hochgebet auf deutsch / © Harald Oppitz (KNA)
Hochgebet auf deutsch / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR