DOMRADIO.DE: Inwieweit müssen wir denn unsere Wirtschaft neu denken?
Dr. Hans Günther Ullrich (Domvikar im Bischöflichen Generalvikariat in Trier und geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer): Wir sind in einer Zeit, wo Orientierungs- und Sinnfragen überall aus dem Boden schießen und in ihrer Relevanz klar sind. Wenn selbst die Wall Street daherkommt und sagt: Wir müssen unseren Mitarbeitern zeigen, welchen Sinn wir in unserer Arbeit, in unserem Unternehmen anbieten, dann ist es selbst bei den schärfsten Kapitalisten angekommen, dass es in der Wirtschaft um mehr geht als um Geld, nämlich um den Menschen.
Das Menschenbild gilt oft als ein Begriff aus dem Elfenbeinturm. Ein paar Theoretiker kümmern sich darum. Aber in der Praxis, im ganz praktischen Handeln in der Wirtschaft ist es von großer Bedeutung, von welchem Menschenbild ich ausgehe. Habe ich ein Vertrauen zu den Menschen, habe ich eher ein Misstrauen? Setze ich auf Kontrolle, setze ich auf Kreativität, setze ich auf Effizienz, – also das Menschenbild hat eine große Bedeutung.
DOMRADIO.DE: Das Wirtschaften und das humanistische positive Menschenbild schließen sich aber nicht aus, oder?
Ullrich: Ganz genau. Das Wirtschaften, das Arbeiten ist ein Teil der menschlichen Kultur. Der Mensch verwirklicht sich in der Arbeit. Er leistet in der Arbeit seinen konkreten Beitrag zur Gestalt der Welt. Das ist mehr als mit rein geldmäßigen Maßstäben auszudrücken ist. Hier greife ich sehr gerne auf den Personenbegriff zurück, einen Kernbegriff der katholischen Soziallehre, der sehr stark und leistungsfähig ist, gerade in der Globalisierung. Person zu sein bedeutet zum einen: Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder hat eine spezifische Kombination von Stärken, Schwächen, Eigenschaften, Prägungen, die ihn in dieser Kombination von allen anderen Menschen der Geschichte unterscheidet.
Das ist kein Zufall, sondern damit korrespondiert spiegelbildlich sozusagen der Beitrag, den ich als Einzelperson zur Gestalt der Welt, zur Gestalt der Gesellschaft, zur Gemeinschaft beitragen kann. Also diese beiden Pole, Einzigartigkeit und Bezogenheit auf die Gemeinschaft, die machen den Personenbegriff aus. Damit steht er in der Mitte zwischen einem reinen Individualismus, wie wir ihn im angelsächsischen, angloamerikanischen Wirtschaftskreis besonders stark finden, da die Freiheit des Einzelnen im Vordergrund steht und die Verantwortung fürs Ganze eigentlich verblasst und im Hintergrund bleibt. Auf der anderen Seite stehen die Asiaten, die Chinesen insbesondere, die diesen Personenbegriff nicht haben und wo der Einzelne sich nur vom Nutzen für das Kollektiv her definiert. Person zu sein ist also eine tolle Sache und eine spezifisch christlich-europäische Position im globalen Dialog.
DOMRADIO.DE: Sie sind seit 12 Jahren Priester und haben vorher 16 Jahre lang in der Automobilzulieferer-Branche gearbeitet. Sie haben viele Erfahrungen auch selber gemacht mit industriellen Betrieben. Heute sind sie geistlicher Berater beim Bund katholischer Unternehmer. Ist denn dieser Ansatz, den Sie gerade ja grob umrissen haben, die Person in den Mittelpunkt zu stellen, etwas, das katholische Unternehmer anders machen als andere Industriezweige?
Ullrich: Das würde ich schon sagen. Denn für das, was ich jetzt gesagt habe, gerade in der globalen Integration, wo die Kulturen aufeinander rücken, ist schon entscheidend, mit welchem Menschenbild ich rein gehe. Wenn ich den Menschen als Kind Gottes sehe und seine unveräußerliche Würde für mich überhaupt nicht zur Diskussion steht, wenn ich ein Grundverhältnis des Vertrauens zum Einzelnen mitbringe, ist meine Integrationskraft, meine Integrationsfähigkeit mit anderen Menschen und anderen Kulturen stärker, als wenn ich eher von einem negativen Menschenbild ausgehe und vom Prinzip "Kontrolle statt Vertrauen" an die Dinge herangehe.
Viele Europäer, nicht nur Unternehmer, viele Katholiken auch würden davon profitieren, sich über diese grundlegenden Zusammenhänge des Personseins nochmal genauer schlau zu machen und da sprachfähig zu werden. Wir in Europa haben oft die Fähigkeit verloren, unsere eigenen kulturellen Grundlagen und solche Schätze wie den Personenbegriff überhaupt ausdrücken zu können und uns dessen bewusst zu sein, was wir damit für ein starkes Pfund in der Hand haben.
DOMRADIO.DE: Wenn ich jetzt jemand wäre, der eine große Firma hat und ganz schnell ganz viel Geld machen will, könnte ich Ihnen entgegenhalten: Na ja, aber wenn da jetzt jeder mitreden will und ich mit jedem immer ganz freundlich und nett bin, dann kann ich ja gar kein Geld verdienen.
Ullrich: Das ist ein häufig vertretendes Missverständnis. Es kommt auf den Betrachtungshorizont an. Ich kann natürlich mit der Peitsche im Kurzfrist-Rahmen schnell was rauspressen. Das wird mit dem von mir eben dargestellten Ansatz nicht möglich sein. Aber es ist langfristig so, dass das, was wirklich dem Menschen entspricht, was ihm gerecht wird, auch ökonomisch tragfähiger ist als das, was wir durch Druck und rein finanzgetriebenes Vorwärtsmarschieren glauben, kurzfristig rausholen zu können. Das ist mühsamer und aufwendiger, aber auch ökonomisch wirkungsvoller.
Nehmen Sie das Thema Digitalisierung: Digitalisierung bedeutet ja im Prinzip, dass aufgrund des Fortschritts der Datentechnik alles, was regelgebunden ist, über kurz oder lang automatisiert werden kann. Und damit nimmt die Bedeutung dessen, was nicht digitalisiert werden kann, also der menschlichen Kreativität – auch im Wettbewerb – ganz klar an Bedeutung zu. Und Kreativität kann man nicht produzieren und auf Knopfdruck abrufen. Da muss man eine Unternehmenskultur schaffen, die dafür förderlich ist. Und die gelingt eben aus meiner Erfahrung auch am besten dann, wenn man den Menschen einen Freiraum gibt und sie nicht auf das maximal an Profit Rauspressbare reduziert.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.
Information: Zum Thema hat Dr. Hans Günther Ullrich auch das Buch "Maßstab Mensch - Plädoyer für ein neues Wirtschaftsverständnis" geschrieben.