DOMRADIO.DE: Das Oratorium "Golgotha" erklingt kommenden Samstag in der Klosterbasilika in Knechtsteden beim Festival Alte Musik Knechtsteden. Das ist nun das erste Jahr ohne den Gründer und langjährigen Leiter Hermann Max, der sich aus Altergründen zurückgezogen hat. Sie haben die Leitung der Rheinischen Kantorei übernommen. Wie fühlen Sie sich dabei, diesen Chor, den es schon so lange auf diesem hohen Niveau gibt, zu übernehmen?
Edzard Burchards (Dirigent und künstlerischer Leiter der Rheinischen Kantorei): Dieser Vertrauensvorschuss erfüllt mich natürlich erstmal mit großem Stolz und Dankbarkeit. Ich bin ja als Sänger und als Assistent von Hermann Max schon sehr lange bei dem Ensemble. 1990 habe ich als Sänger, als Countertenor angefangen und habe dann schnell Proben und Einstudierungen mit dem Chor gemacht. Die Chormitgliedern kennen mich also sehr gut und ich kenne den Chor auch gut. Ich versuche, da ich natürlich ganz eng mit Hermann Max zusammengearbeitet hat, in seinem Sinne den Chor weiterzuführen. Natürlich unterscheidet sich unsere musikalische Arbeit ein bisschen, aber ich bin sehr geprägt von Hermann Max.
DOMRADIO.DE: Sie haben dieses Jahr ein besonderes Programm mit der Musik von Frank Martin. Der ist ein Komponist aus der Schweiz, dessen 50. Todestag in diesem Jahr ist. Er hat gerade in Köln durchaus seine Spuren hinterlassen, weil er auch eine Lehrtätigkeit an der Musikhochschule hatte. Seine Messe für Doppelchor wird sogar regelmäßig im Kölner Dom von der Dommusik gesungen. Wie würden Sie denn die Klangsprache von Frank Martin beschreiben?
Burchards: Wenn Sie die Messe erwähnen: Das ist ein sehr frühes Werk, das schon in den 1920er Jahren entstanden ist. Das ist musikalisch ein Sonderstück, seine Tonsprache ab den 1940er Jahren ist da eine ganz andere. Ab dieser Zeit sind dann die Oratorien entstanden, auch Golgatha als großes Oratorium.
Dort benutzt er ganz unterschiedliche, vielfältige Kompositionstechniken. Grundsätzlich ist seine Musiksprache natürlich die Sprache des 20. Jahrhunderts, eine gemäßigt moderne Sprache. Martin benutzt ganz viele Techniken; von Einstimmigkeit über Kanon, über Spiegelkanon bis hin zu kompliziertester Polyphonie. In einem Stück kommt es sogar vor, dass er eine Zwölftonreihe verarbeitet.
Es ist aber immer berauschende Musik, wie ich finde, es ist immer eine sehr sinnliche und direkt ins Ohr gehende Musik, das kann man sich ganz, ganz toll anhören. Mich überwältigt das jedes Mal, wenn ich das Oratorium probe. Man hört es leider so selten. Das ist aber verständlich, denn für Laienchöre ist das ein sehr anspruchsvolles Stück. Aber ich empfehle sehr, es sich mal anzuhören!
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie das Oratorium schon angesprochen, dass Sie ja aufführen werden. Golgotha, so heißt es, biblisch ist das ja die Stelle, an der Jesus Christus außerhalb von Jerusalem gekreuzigt worden ist. Martin wählt die Texte selbst aus, hat Texte der Psalmen dabei, aus den vier Evangelien und so weiter. Er hat ja drei Jahre lang an diesem Oratorium geschrieben, aber warum komponiert er im 20. Jahrhundert ein solches Werk?
Burchards: Er hatte einen konkreten Anlass, aber er hatte keinen offiziellen Auftrag. Martin hat eine Radierung von Rembrandt betrachtet. Die drei Kreuze, so heißt sie und zeigt die Kreuzigung von Jesus Christus. In der Darstellung ist ein ganz starker Gegensatz zu sehen und ein ganz starkes Spiel mit Licht und Schatten. Das hat ihn sehr inspiriert.
Ein weiterer Ansatz vielleicht ist, dass er als junger Mensch eine Aufführung von Bachs Matthäuspassion gehört hat, die ihn sehr beeindruckt hat. Martin sagt, es sei eigentlich vermessen, nach Bach noch eine Passion zu komponieren. Aber er rechtfertigt das, indem er dann erwidert: Bach hat seine Musik für die Gläubigen, für die Kirche geschrieben und will die Gläubigen direkt ansprechen. Martin hat einen anderen Ansatz. Er vertont es etwas distanzierter und überlässt dem Hörer eigene Schlussfolgerungen. Die Dramaturgie ist sehr auf die Figur von Jesus Christus angelegt. Die hat auch eine feste Rolle, einen festen Sänger, ist dem Bariton zugewiesen. Alle anderen Rollen sind wechselnde. Also es gibt keinen festen Evangelisten, wie bei Bach zum Beispiel. Das macht bei Martin mal ein Solist oder auch mehrere Solisten oder auch der Chor. Auch andere Rollen sind nicht festgelegt.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie schon gesagt, Martins Vertonung lehnt sich an Bachs Passionen an und ist doch ganz anders. Er hat auch über das Werk gesagt, das sei keine Kirchenmusik, könne aber durchaus in der Kirche aufgeführt werden. Genau das machen Sie ja. Sie führen das ja in der Klosterbasilika auf. Sie haben sich jetzt natürlich sehr intensiv mit dem Werk auseinandergesetzt. Wie sehen Sie das Werk? Ist es ein weltliches Konzertstück oder ein Oratorium?
Burchards: Wegen des Stoffes ist es ein Oratorium natürlich. Es ist für mich aufgrund der Tonsprache schon eher Konzertmusik als Musik für Gläubige, wie es bei Bach war.
DOMRADIO.DE: Bei den Bach Passionen gibt es besondere Momente wie die "Erbarme dich"-Arie bei der Matthäuspassion zum Beispiel. Wo gibt es so eine Stelle in dem Werk von Martin, bei der Sie als Musiker sagen: Das packt mich besonders, das inspiriert mich als Dirigent besonders?
Burchards: Es gibt tatsächlich Zitate von Bach, ein Arioso aus der Matthäuspassion wird zitiert. Das berührt wirklich sofort. Das ist auf einmal auch eine andere Tonsprache, es ist ganz ruhige, stille, sanfte Musik. Hingegen ist gleich der Anfang des Oratoriums überwältigend mit diesen drei starken Rufen "Pére" – "Vater". Wir singen ja die französische Version.
Das erinnert an den Beginn der Johannespassion von Bach mit den Herr-Rufen. Das sind große Momente. Und natürlich dann die Kreuzigungsszene beziehungsweise. da, wo das Volk Pilatus überredet, Jesus zu kreuzigen. Das ist höchst dramatische Musik von Martin, die ihre Wirkung nicht verfehlt.
DOMRADIO.DE: Wir leben ja in sehr unruhigen Zeiten mit Krieg in Europa und auch diversen anderen Krisen. So ein Konzert hallt ja bei den Zuhörerinnen und Zuhörern in der Regel immer nach. Was können die mitnehmen, was sollen sie mitnehmen? Was wünschen Sie den Menschen, die sich diese besondere Musik anhören?
Burchards: Frank Martin komponierte das Werk quasi als Antwort auf den Zweiten Weltkrieg, er schrieb von 1945 bis 1948 an dem Oratorium. Es ist gerade in den darin enthaltenen Vertonungen der Augustinus-Meditationen großer Trost zu finden. Und das wünsche ich den Besuchern natürlich, dass die nicht aufgewühlt bis ins Letzte aus dem Konzert kommen, sondern dass sie auch getröstet nach Hause gehen können.
Das Interview führte Mathias Peter.
Das komplette Interview mit dem Chorleiter und Dirigenten Edzard Burchards wird am Sonntagabend im Radioprogramm von DOMRADIO.DE in voller Länge ab 20 Uhr ausgestrahlt.