Am Mittwoch war eine sogenannte Sammelabschiebung von Deutschland nach Afghanistan anberaumt. Wieder einmal. Der Flug wurde in letzter Minute abgesagt. Aber einen generellen Stopp solcher Aktionen gibt es nicht - obwohl Nichtregierungsorganisationen und Teile der Opposition das immer wieder von der Bundesregierung fordern.
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke etwa wirft dem zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bamf einen "irrsinnigen Eifer" vor. Niemand dürfe in das "gefährlichste Land der Welt" abgeschoben werden.
Politische Lage instabil
Panikmache oder realistisches Lagebild? Wer sich in diesen Tagen unter Helfern umhört, bekommt eine ungefähre Ahnung von den Abgründen, die sich vor Afghanistan auftun. Bis zum Herbst wollen die internationalen Truppen das Land nach 20 Jahren verlassen.
Dass sich die politische Lage durch den Einsatz, der nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA begonnen hatte, stabilisiert hätte, lässt sich wohl kaum sagen.
Allein am vergangenen Wochenende starben bei Kämpfen zwischen afghanischen Truppen und Aufständischen mehr als 100 Menschen. "Die Hoffnung auf einen Waffenstillstand, auf Stabilität und einen substantiellen Friedensvertrag mit Bekenntnis zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, besteht seit dem fluchtartigen Abzug westlicher Truppen so gut wie nicht mehr", bilanziert die Länderreferentin des katholischen Hilfswerks Misereor, Anna Dirksmeier.
Taliban gewinnen Oberhand
Die radikalislamischen Taliban gewinnen mehr und mehr die Oberhand, sind allerdings in sich zerstritten. Buchstäblich zwischen allen Fronten steht die afghanische Regierung von Präsident Aschraf Ghani.
Der bescheinigt die stellvertretende Länderdirektorin von Care, Marianne O'Grady, zwar, sich nach Kräften um Perspektiven für die Menschen im Land zu kümmern. Aber, so sieht es Dirksmeier: "Die Gefahr eines Bürgerkriegs oder eines Kalifats ohne gleiche Rechte für Frauen und religiöse oder ethnische Minderheiten wächst dramatisch."
Folgen der Corona-Pandemie
Hinzu kommen die Folgen der Corona-Pandemie, ein sprunghafter Anstieg der Nahrungsmittelpreise sowie eine hohe Arbeitslosigkeit. Experten schlagen Alarm. Jeder dritte Einwohner Afghanistans könne sich nicht mehr ausreichend ernähren, teilt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen WFP mit.
"Millionen von afghanischen Familien kämpfen bereits ums Überleben", sagt die WFP-Landesdirektorin in Afghanistan Mary-Ellen McGroarty. Ein Sack Weizen sei 30 Prozent teurer als im Vierjahresdurchschnitt. Viele Familien, ergänzt Care-Verteterin O'Grady, lebten nur noch von Reis und grünem Tee.
Nach einem harten Winter steht den Afghanen nun eine weitere Prüfung bevor. Laut Misereor-Länderreferentin Dirksmeier droht eine anhaltende Dürre mit erheblichen Ernteschäden durch das Wetterereignis "El Nino". Dies werde viele kleinbäuerliche Familien dazu bringen, ihre Dörfer zu verlassen. Schon jetzt sei das Land in vielen Regionen "ein einziges Flüchtlingslager".
Hilfe der Staatengemeinschaft nötig
Umso dringender wäre eine entschlossene Unterstützung der Staatengemeinschaft. Doch die fällt bei weitem zu gering aus, wie O'Grady und Dirksmeier sagen. Vor allem im ländlichen Bereich gebe es eine massive Unterversorgung. Angesichts von bewaffneten Auseinandersetzungen und Terror sei zudem vielerorts ungewiss, ob und wie die Projektarbeit weitergeführt werden könne.
Dass angesichts dieser Lage weiterhin Afghanen ihr Land Richtung Europa verlassen, scheint wenig überraschend. Viele von ihnen stranden in den Flüchtlingslagern von Griechenland. Selbst wer es bis nach Deutschland schafft, lebt mitunter weiter in Ungewissheit, wie Ulla Jelpke berichtet. "In einem mir vorliegenden Schreiben des Bamf heißt es unter anderem, wer in Deutschland eine Ausbildung absolviert habe, könne sich vor Ort auch ohne familiäre Netzwerke alleine durchschlagen, weil er bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe."
Immerhin: Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) scheint zu anderen Schlüssen mit Blick auf die Sicherheitslage zu kommen. Sie kündigte an, afghanische Bundeswehr-Helfer rasch nach Deutschland holen zu wollen. "Wir haben auch eine moralische Verpflichtung diesen Menschen gegenüber."