Schon Johannes Paul II. (1978-2005), der Papst aus Polen, war im Irak – wenn auch nur gedanklich. Im Heiligen Jahr 2000 wollte Johannes Paul eine Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten des christlichen Glaubens unternehmen, und dazu gehörte nun mal Ur in Chaldäa, die Stadt, aus der einst Abraham von Gott herausgerufen wurde.
Also fragte der Vatikan in Bagdad an, ob der Papst nicht in den Südirak reisen dürfe, um Abraham zu ehren. Die Antwort der Behörden des damaligen Herrschers Saddam Hussein war eindeutig: Nein. Der "Eilige Vater" musste zu Hause bleiben.
Die kürzeste Papstreise aller Zeiten
Seinen Plan einer Irak-Visite gab Johannes Paul II., dem ein gehöriges Maß Sturheit eignete, allerdings nicht auf. Er beschloss, die Reise einfach gedanklich durchzuführen. In der vatikanischen Audienzhalle lud er am 23. Februar 2000 zu einer Gedächtnisfeier für Abraham, den "Vater aller Gläubigen", ein. Es war, sozusagen, die kürzeste Papstreise aller Zeiten – aber eine, die geistlich weit zurückführte, bis zu den Wurzeln des Glaubens.
"Ich bin der Herr, der dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt hat" (Gen 15,7) – um dieses Zitat aus dem ersten Buch der Bibel kreisten die Gedanken Johannes Pauls bei der denkwürdigen Feier im Vatikan. Für eine gute Stunde lag das antike Ur am Ufer des Tiber; vor einem Bild des Stammvaters aus Ur war eine kleine Phantasielandschaft aufgebaut. "Lasst uns in Gedanken zu diesem in der Geschichte des Gottesvolkes so bedeutenden Ort aufbrechen, um dort nach den allerersten Anfängen des Bundes Gottes mit dem Menschen zu suchen."
Die Grenzen der Geographie gesprengt
Warum brach Abraham (oder Abram, wie er in der Bibel zunächst heißt) damals auf? Warum verließ er Ur und zog in Richtung Kanaan? "Ging es hier vielleicht um die Fährte einer der vielen für jenes Zeitalter typischen Völkerwanderungen, als die Viehzucht eine der wesentlichen Formen des Wirtschaftslebens war? Das ist wahrscheinlich. Gewiss ist allerdings, dass es nicht nur darum ging. In der Lebensgeschichte Abrahams, von der die Heilsgeschichte ihren Ausgang nahm, können wir schon eine andere Bedeutung der Berufung und der Verheißung erkennen. Das Land, zu dem sich der von Gottes Stimme geleitete Mann aufmacht, gehört nicht ausschließlich zu der Geographie dieser Welt. Abraham, der Gläubige, nimmt die Einladung Gottes an und bricht in ein Gelobtes Land auf, das nicht dem Diesseits angehört."
Nicht nur Abraham sprengte damals, an den Anfängen der Geschichte Gottes mit den Menschen, die Grenzen der Geographie. Auch der polnische Papst versuchte etwas Ähnliches: den geistigen Aufbruch hinaus aus den irdischen Grenzziehungen, hin zu einem himmlischen Kanaan.
Die übererfüllte Verheißung
Abraham war dafür ein Vorbild – und zugleich eine Präfiguration der Gestalt Jesu Christi. "Dieser Mensch, der an den Ursprung unseres Glaubens gesetzt wurde, gehört zum ewigen Heilsplan. Laut Überlieferung ist der Ort, wo Abraham fast seinen Sohn geopfert hätte, derselbe, an dem ein anderer, nämlich der ewige Vater, das Opfer seines eingeborenen Sohnes Jesus Christus annehmen sollte. Das Opfer Abrahams erscheint uns also als prophetische Ankündigung des Opfers Christi… Der Patriarch Abraham, unser Vater im Glauben, führt, ohne es zu wissen alle Gläubigen in den ewigen Plan Gottes ein, worin sich die Erlösung der Welt vollzieht." Seine Verheißungen an Abraham habe Gott gewissermaßen übererfüllt, predigte der polnische Papst. "Im Glauben Abrahams hat Gott wahrlich einen ewigen Bund mit dem Menschengeschlecht geschlossen, und Jesus Christus ist die endgültige Erfüllung dieses Bundes."
Nur Tage später stand Johannes Paul im Sinai-Gebirge
Wenige Tage nach seiner geistlichen Pilgerfahrt nach Ur im Südirak brach Johannes Paul zu einer Reise auf den Spuren des Mose nach Ägypten auf – diesmal tatsächlich und nicht nur im Geiste. Die Regierung Mubarak hatte ihm die Einreisegenehmigung erteilt. 2003 (nur drei Jahre nach der als-ob-Papstreise in den Irak) wurde Saddam Hussein von einer internationalen Militärallianz unter Führung der USA gestürzt. Vor diesem erneuten Irakkrieg hatte Papst Johannes Paul II. eindringlich gewarnt… aber das ist eine andere Geschichte.
Stefan Kempis