DOMRADIO.DE: Es ist eine große Frage, ich stelle Sie Ihnen trotzdem: Ist die Demokratie in Gefahr?
Prof. Dr. Peter Schallenberg (katholischer Moraltheologe und christlicher Sozialwissenschaftler): Die Demokratie ist immer in Gefahr. Das ist der Unterschied zu totalitären, diktatorischen Systemen, die viel weniger in Gefahr sind, weil die Diktatur Gewalt einsetzen kann.
Die Demokratie ist immer in Gefahr, weil sie ein sehr fragiles System ist, eine sehr fragile Balance in sich trägt. Und weil jeder Mensch im demokratischen Staat die Möglichkeit hat, seine Meinung zu äußern – und das auf Grundlage der Verfassung. Manchmal muss aber festgestellt werden, ob Meinungsäußerungen der Bürger noch der Grundlage der Verfassung entsprechen oder eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz erfordern, im Extremfall sogar das Verbot von Parteien oder von Äußerungen – wie die Leugnung des Holocausts oder das Zeigen des Hitler-Grußes. Die Demokratie ist deshalb, etwas zugespitzt formuliert, systemisch in Gefahr. Das liegt im Wesen der Demokratie. Das ist auch notwendig, erfordert aber alle Anstrengung. Deswegen gibt es ja eine Vielzahl an Parteien, die der politischen Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger dienen. Trotzdem bleibt die Demokratie ein äußerst angreifbares System.
DOMRADIO.DE: Man hat manchmal das Gefühl, dieses System mache bequem. Die, die mit dem demokratischen System zufrieden sind, sitzen zu Hause. Die Unzufriedenen gehen auf die Straße. Haben wir verlernt, Stellung zu beziehen, wenn alles gut läuft?
Schallenberg: Das ist gut formuliert. Demokratie verleitet vielleicht dazu – gerade in unserer parlamentarischen Demokratie – die Machtausübung den Parteien zu überlassen, sich bequem hinzusetzen und zu denken, in vier Jahren kann ich wieder mein Kreuzchen machen, aber in der Zwischenzeit habe ich weiter nichts zu tun. Aber das ist nicht das Wesen der Demokratie.
Denn die Demokratie ist der "Staat in uns", wie Romano Guardini es nennt. Das heißt, der Staat ist nur dann stabil, stark und gut, wenn wir in uns das Empfinden haben, dass der Staat von uns – von unserer Herzensbildung, so hätte Guardini etwas fränkisch gesagt – aufgebaut wird. Deshalb ist diese Bequemlichkeit, die Herrschaft sozusagen an die Parteien oder gar die Regierung zu delegieren, wirklich eine gefährliche Sache in der Demokratie.
Man müsste viel mehr dazu aufrufen, zivilgesellschaftliche Gruppierungen zu bilden, Grassroots-Bewegungen. Man muss in die Parteien hineingehen, damit die Demokratie stabil bleibt.
DOMRADIO.DE: 1932 gingen 100.000 Menschen gegen die NSDAP auf die Straße. Heute hat man das Gefühl, dass das gar nicht mehr möglich wäre. Woran liegt das?
Schallenberg: Ich wäre vorsichtig damit, ob allein Demonstrationen oder Massenbewegungen auf der Straße das Allheilmittel sind oder sein können. Vieles läuft heute über die Medien – über Social Media natürlich, aber auch grundsätzlich über die Medien – was in den 1920er und 1930er Jahren gar nicht der Fall war, weil es ein Medienmonopol gab, und die Straße mehr oder weniger der einzige Ort war, wo größere Ansammlungen ihre Meinung kundtun konnten. Das hat sich verändert.
Deshalb ist heute jeder gefordert, durch Leserbriefe, Social Media und Meinungsäußerungen gegen Unrecht, Menschenrechtsverletzungen und Verhöhnung der Menschenwürde aufzustehen. Ob das jetzt unbedingt durch Demonstrationen geschehen muss, bezweifle ich etwas.
Wichtig ist, dass Kirchen, Parteien, Politiker sowie – das halte ich für sehr wichtig – Einzelpersonen des gesellschaftlichen Lebens aufstehen, ihre Meinung äußern und sagen: "Das geht nicht, das geht zu weit". Und es ist an der Zeit, das will ich deutlich sagen, die AfD durch den Verfassungsschutz zu beobachten. Die Grenze des Taktierens mit menschenrechtsverletzenden Äußerungen bestimmter Gruppen ist seit Chemnitz überschritten.
DOMRADIO.DE: "Den Menschen fehlt Trost" – das hat uns eine evangelische Christin aus Chemnitz gesagt. Es fehle Trost, auch Glaube, der auffängt. Ist da etwas dran?
Schallenberg: Die Christen und die Kirchen sind natürlich grundsätzlich zur "Kontingenz-Bewältigung" da, zur Bewältigung von Vergeblichkeit und Vergänglichkeit und von Zufälligkeit – insofern sollen sie Trost spenden. Dies aber nicht im billigen Sinne von Vertröstung, sondern von aufbauendem Trost, von Bekräftigung, von Erziehung und Ermutigung zur Zivilcourage und dem Eintreten gegen das Unrecht. Der barmherzige Samariter hat dem Menschen im Straßengraben nicht einfach nur Trost und Vertröstung gespendet, sondern er hat tatkräftig dafür gesorgt, dass es ihm besser ging.
Und da müssten wir genau hinschauen: Wo liegen Menschen bei uns im Straßengraben? Wo brauchen Asylbewerber und Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, unsere Hilfe? Es ist nicht nur die Aufgabe des Rechtsstaates Recht zu sprechen, sondern es ist die Aufgabe der gesellschaftlichen Kräfte, denen, die im Straßengraben liegen – aus welchen Gründen auch immer – zunächst Trost und Hilfe zu spenden.
Das Gespräch führte Verena Tröster.