DOMRADIO.DE: Sie sind selbst in der DDR geboren und aufgewachsen. Als die Mauer fiel, waren Sie Mitte 30. Erinnert Sie die aktuelle Situation in Belarus an damals, als der Betrug bei den letzten Kommunalwahlen aufgedeckt wurde und der Druck auf der Straße immer größer wurde?
Bischof Wolfgang Ipolt (Bischof von Görlitz): Ja, das war Anfang Mai 1989. Immer mehr Menschen hatten schon einen Ausreiseantrag gestellt, waren auch schon auf dem Weg in Richtung Westen. Und dann kamen diese Kommunalwahlen Anfang Mai 1989. Da war natürlich die Stimmung so ähnlich wie jetzt in Belarus, dass keiner mehr dem Staat zugetraut hat, dass die Stimmen ehrlich ausgezählt werden. Ich selber habe das auch aus den Medien damals mitverfolgt.
Ich bin ja, während der DDR-Zeit jedenfalls, ein notorischer Nichtwähler gewesen, weil ich diese Wahlen niemals als echte Wahlen anerkannt habe. Deswegen habe ich mich auch nie dran beteiligt. Aber die Situation war sehr ähnlich.
Dann ist herausgekommen, dass man wieder versucht hatte, einen Betrug zu vollziehen. Schließlich hat es dann nur noch wenige Monate gedauert, bis im Oktober 1989 die Demonstrationen in Leipzig sowie in anderen Städten die Friedensgebete begonnen haben.
DOMRADIO.DE: Wäre es nicht auch denkbar, dass Lukaschenko doch noch das Militär losschickt und es zu einem Blutvergießen kommt?
Ipolt: Ja, das ist meine große Befürchtung. Deswegen habe ich auch einen Aufruf gestartet. Die gleichen Ängste hatten wir damals auch. Wir hatten ja die Sowjetarmee im Land und wir wussten oder ahnten, dass es möglich ist, dass die DDR-Regierung jetzt ihre "Freunde" - wie sie es immer bezeichnet hat - zu Hilfe ruft.
In Belarus gab es auch Ängste, ob Putin das jetzt machen würde. Da bin ich nicht ganz sicher. Aber man muss wissen, dass sich diese beiden Völker gut verstehen. Sie sind sprachlich sehr nahe beieinander. Sie sind geografische Nachbarn. Ich hoffe, dass das nicht geschieht.
DOMRADIO.DE: Die katholischen Bischöfe in Belarus bieten sich jetzt als Vermittler an, damit der aktuelle Konflikt friedlich und ohne Blutvergießen gelöst werden kann. Welches Gewicht hat denn die Kirche in Belarus?
Ipolt: Soweit ich weiß, gibt es ungefähr zehn Prozent Katholiken. Das Gewicht wird nicht groß sein, aber ich bin sehr froh, dass die Bischöfe das angeboten haben. Denn das entspricht auch wieder ungefähr der Situation damals bei uns in der früheren DDR. Dann kam die Zeit der runden Tische, wo oft Vertreter von den Kirchen die Moderatoren waren, weil sie einfach unbelastet von manchen Dingen dieses Systems waren. Von daher finde ich diese Idee, jetzt einzuladen und sich als Vermittler anzubieten, unterstützenswert. Ob das von diesen diktatorischen Systemen angenommen wird, ist im Augenblick natürlich fraglich.
Wir sehen ja, dass die Regierung im Augenblick auch noch nicht nachgibt. Deswegen habe ich auch in meiner Mitteilung formuliert, dass wir um Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit auf Seiten der Regierung und dieser Leute, die Lukaschenko stützen, beten müssen. Sie müssen sehen, dass man so in einem demokratischen Gemeinwesen nicht mehr agieren kann. Wenn sie jetzt die Gewalt bei den Demonstrationen noch verstärken, ist das ganz sicher ein falscher Weg.
DOMRADIO.DE: Was brauchen die Menschen in Belarus jetzt?
Ipolt: Sie brauchen unsere Solidarität. Sie brauchen unsere Fürbitte, damit ein versöhnlicher Weg gefunden wird, um das System, das Miteinander und die Gesellschaft von Innen her zu erneuern. Und da, glaube ich, können die Kirchen schon mithelfen, sowohl die orthodoxe Kirche als auch wir Katholiken. Das ist das Entscheidende. Man muss diesen vielen Menschen helfen, damit keine von beiden Seiten - sowohl die Regierungsseite als auch die Demonstranten - jetzt zu Gewalt greifen.
Denken Sie nur an die Situation in der DDR. Ich bin selber auch in manchen Demonstrationszügen mitgegangen, wo der Ruf "Keine Gewalt" aus der Reihe der Demonstranten kam. Wir haben das in Sprechchören gerufen. Damals haben die Leute Kerzen in die Hand genommen. Das ist schon in sich ein Zeichen des Friedens. Das hat auch wirklich geholfen. Es war für uns alle damals erstaunlich, dass auch Nicht-Christen und andere verstanden haben, dass wir jetzt nicht einfach drauflos schlagen können. Wir mussten mit dieser Form des Protests langsam etwas in Gang setzen. Das war damals bei den sogenannten Montagsdemonstrationen auch so, dass man damit etwas bewegen konnte.
Wir haben damals immer gesagt, das ist ein Wunder. Und das wünsche ich mir für Belarus jetzt auch.
Das Interview führte Dagmar Peters.