DOMRADIO.DE: Wie ist denn die Lage in Beirut und im Libanon?
Nadim Ammann (Leiter der Diözesanstelle Weltkirche-Weltmission im Erzbistum Köln): Die Situation nach der Explosion ist so, dass die meisten Einrichtungen, also Schulen, Krankenhäuser und so weiter wieder aufgebaut sind. Es gab eine enorme Hilfsbereitschaft und verschiedene NGOs haben ihre Hilfen unkompliziert geleistet, sodass das relativ schnell wieder aufgebaut werden konnte.
Im privaten Bereich sieht es ein bisschen anders aus. Die meisten konnten schon in ihre Häuser zurückkehren, wenn auch nicht immer alles fertig renoviert ist. Vielleicht werden wir sowas ähnliches jetzt hier im Rhein-Erft-Kreis erleben. Aber einige, die einfach nicht die Mittel haben, weil die wirtschaftliche Situation so katastrophal ist, wohnen noch bei Familienangehörigen oder in Notunterkünften.
DOMRADIO.DE: Was haben Sie damals gedacht, als Sie die Bilder der Explosion das erste Mal gesehen haben?
Ammann: Ich glaube, wie alle anderen auch: Es ist einfach so unwirklich. Man kennt sowas eigentlich nur aus Filmen, dieser Explosionspilz, der ja auch ein bisschen an eine Atombombe erinnert. Was ich total erschreckend fand, war, dass auch Menschen, die ganz weit weg waren und mit ihren Handys gefilmt haben, mehrere Sekunden nach der Explosion diesen Druck verspürt haben. Das zeigt, wie weit dieser Druck eigentlich gegangen ist.
Ich habe das Land ziemlich bald danach bereist und konnte auch sehen, wie weit entfernt noch Fenster zu Bruch gegangen sind. Das ist eigentlich unglaublich, in welch kurzer Zeit - es waren ja wirklich nur ein paar Sekunden - die Welt auf dem Kopf stand.
DOMRADIO.DE: Warum hat das ein Land wie den Libanon und eine Stadt wie Beirut härter getroffen, als es in anderen Regionen gewesen wäre?
Ammann: Da kommen einige Dinge zusammen. Man kann vielleicht von einer Mini-Revolution sprechen, im Herbst 2019 waren ja Menschen auf die Straßen gegangen und hatten demonstriert und gehofft, dass Veränderungen einkehren. Aber das Land wird seit vielen Generationen von einem feudalen System, also von Familien regiert, die den Blick für die eigentliche Entwicklung des Landes offensichtlich verloren haben. Die Menschen sehen einfach keine Perspektive mehr.
Hinzu kam dann eine wirtschaftliche Situation mit einer enormen Abwertung der libanesischen Pfunds, was dazu führt, dass ganz viele nicht mehr in der Lage sind, ihr tägliches Brot zu erwerben.
DOMRADIO.DE: Jetzt sieht es ein Jahr später nicht wirklich besser aus. Die politischen Verhältnisse sind auch nicht gerade stabil.
Ammann: Genau. Es war eigentlich vor einem Jahr schon klar, dass der Wiederaufbau durch die große Hilfsbereitschaft der internationalen Geldgeber geschehen würde. Aber man hat einfach die Steine wieder in Ordnung gebracht, aber eben nicht das eigentliche Leben.
Das Land ist seit langer Zeit ohne Regierung. Vor ein paar Tagen ist der neue Ministerpräsident Mikati, der nicht ganz neu ist, weil er schon ein paar Mal Ministerpräsident war, berufen worden, eine neue Regierung zu schaffen. Ob er das schaffen wird, weiß man nicht. In einem halben Jahr stehen Wahlen an. Wenn er es schafft, würde es also eh nur eine Übergangsregierung sein. Und ob dann mit den Wahlen wirklich nochmal eine Veränderung stattfindet, all das weiß man nicht.
Dadurch ist dieses Land politisch instabil, und wirtschaftlich ist, wie gesagt, das libanesische Pfund in einer Art und Weise abgestürzt, dass Mittelstandsfamilien nicht mehr in der Lage sind, beispielsweise die Schulgebühren für ihre Kinder zu bezahlen. Dadurch können die Schulen ihre Lehrer nicht mehr bezahlen. Das ist ein Kreislauf, bei dem man das Ende derzeit nicht absieht.
DOMRADIO.DE: Als letzten Termin vor seiner Sommerpause Anfang Juli hat Papst Franziskus die Kirchenführer des Landes in den Vatikan geladen, um darüber zu reden, was die Kirche im Libanon tun kann, um die Situation zu verbessern. Was müsste denn mehr passieren?
Ammann: Ich bin schon jemand, der an die Kraft des Gebets glaubt. Und insofern ist es gut, wenn Kirchenführer zusammenkommen. Aber hier im Libanon muss man wirklich auch die Zivilgesellschaft in den Blick nehmen. Der Libanon ist ein Land, in dem ein unglaubliches Engagement aus der Gesellschaft heraus da ist. Nach dieser Explosion sind so viele junge Menschen aus dem ganzen Land nach Beirut geströmt, um zu helfen.
Da gibt es Organisationen, die Jugendverbände der Caritas, es gibt die Vinzenz-Gemeinschaft, wirklich eine sehr gut aufgestellte Laienorganisation von Ehrenamtlern. Ich glaube, dass man solche Leute, die wirklich aus der Gesellschaft herkommen, die eigene Vorstellungen haben, wie dieses Land wieder aufgebaut werden könnte, zusammenbringen müsste und diesen Kreis über die Kirchenführer hinaus nochmal erweitern müsste, um auch jüngere Leute mal zu Wort kommen zu lassen.
Es ist schon auffällig, dass viele derjenigen, die derzeit im Libanon das Sagen haben, im Libanon mittlerweile im Großelternalter angekommen sind. Man würde ihnen jetzt wünschen, sich einfach um ihre Enkelkinder kümmern zu können und nicht mehr Politik machen zu müssen. Das gilt auch für die Kirchenführer, dass man da einfach wirklich jüngere Kräfte zu Wort kommen lässt.
DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es immer wieder Spekulationen, dass Papst Franziskus in den Libanon reisen will, gerade auch wegen der Explosion und der Nachwirkungen. Konkrete Pläne gibt es noch nicht. Würde das dem Land denn weiterhelfen, wenn der Papst zu Besuch käme?
Ammann: Das glaube ich schon, wenn man sieht, welche Nachwirkungen der Besuch von Johannes Paul II. hat und wie oft sein Zitat "Der Libanon ist eine Botschaft" verwendet wird. Und auch wenn man betrachtet, welche Auswirkungen die Reise in den Irak hatte, gerade auch die interreligiösen Gespräche, die Art und Weise, wie Papst Franziskus auf Menschen zugeht, den Dialog sucht, den Kontakt sucht: Ich glaube, das würde im Libanon, der ja ein Land der Religionen ist, durchaus nachhaltigen Effekt haben.
DOMRADIO.DE: Sie leiten das Referat Weltkirche-Weltmission im Erzbistum Köln und stehen deswegen in Kontakt mit den Menschen im Libanon vor Ort. Wie sieht denn diese Hilfsarbeit vom Erzbistum aus?
Ammann: Wir unterstützen die Kirchen in ihren pastoralen Bemühungen. Man kann es kaum glauben, aber es sind nach wie vor viele Kriegsschäden da und in vielen Dörfern fehlen Begegnungsmöglichkeiten. Ein Hauptanliegen der Kirchen ist der Bau von Pfarrsälen, wo dann Beerdigungen stattfinden können, aber auch Trauungen und so weiter, wo die Menschen einfach zusammenkommen können. Das ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit.
Aber wir haben natürlich jetzt gerade nach der Explosion Wiederaufbauhilfe geleistet. Es müssen immer noch einige Kirchen renoviert werden. Wir haben etwas für die Krankenhäuser gegeben. Also unsere Hilfe ist vielfältig, konzentriert sich aber vor allen Dingen auf den pastoralen Bereich.
Das Interview führte Renardo Schlegemilch.