domradio.de: Sie haben sich das Konzept des Wahl-O-Mat zu eigen gemacht und in Ihrem Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" den Christ-O-Mat daraus gemacht. Die religionspolitischen Aussagen der Parteien werden aufgelistet und unten kommt dann die Auflösung, welche Aussage zu welcher Partei gehört. Hat Sie bei Ihrer Recherche ein Standpunkt überrascht?
Hannes Leitlein (Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit"): Mich hat vor allem überrascht, dass die Religion Thema geworden ist in den Wahlprogrammen. Also, sie ist zurück. Das merkt man ja auch an der öffentlichen Debatte. Zum Beispiel haben die Diskussionen um das Kopftuch, aber auch um das Kreuz auf dem Berliner Stadtschloss in der letzten Zeit ganz schön die Gemüter erhitzt. Und das merkt man den Wahlprogrammen eben auch an.
domradio.de: Sechs Parteien haben Sie untersucht - also die Parteien, die eine Chance haben, bei der Bundestagswahl ins Parlament zu kommen. Fassen wir doch mal grob zusammen: Wie stehen die großen Parteien zur Religion?
Leitlein: Mir ist vor allem aufgefallen, dass Religion eigentlich immer in einem Kontext auftaucht. Außer bei der CDU und CSU - in deren Wahlprogramm haben die christlichen Religionen einen eigenen Passus. Bei allen anderen Parteien orientiert sich das sozusagen an der AfD, die das Christentum einzig und allein als Abgrenzung gegenüber dem Islam benutzt. Das taucht bei den anderen Parteien auch auf, allerdings sehr viel abgeschwächter. Aber man kann sagen: Religion ist 2017 eben keine Frage des Glaubens mehr, sondern eine Frage der Abgrenzung.
domradio.de: Es ist auch eine Frage des Streits geworden. Die AfD schreibt zum Beispiel in ihrem Wahlprogramm: "Minarett und Muezzinruf stehen im Widerspruch zu einem toleranten Nebeneinander der Religionen." Es gibt Menschen, die auf solche Aussagen anspringen, oder?
Leitlein: Genau deshalb schreibt die AfD das rein, weil es Leute möglicherweise überzeugt. Weil man eben Sorge davor hat, dass Muslime was auch immer mit diesem Land anstellen. Und - wie gesagt - das merkt man eben auch den anderen Parteiprogrammen an, auch wenn es in wesentlich abgeschwächter Variante vorkommt. Aber dieser Abgrenzungsgestus kommt vor. Und ich würde sagen, das ist nicht sonderlich christlich, das Christliche nur als Abgrenzung zu benutzen.
domradio.de: Kann man es denn auch so sagen, dass die Parteien sich nicht nur zum Islam abgrenzen, sondern auch zur eigenen Religion mehr äußern und mehr Stellung beziehen?
Leitlein: Ja, auch das kann man sehen. 1998, als Gerhard Schröder Kanzler wurde, hat er bei seiner Vereidigung auf den Gottesbezug verzichtet. Das kann man sich heute nicht mehr so richtig vorstellen. Im Fernsehduell am vorletzten Sonntag kam ja zum Beispiel auch die Frage nach dem Kirchgang. Da hat man sehr deutlich gemerkt, dass Angela Merkel und Martin Schulz beide wissen, dass sie das nicht einfach übergehen können. Dass sie nicht einfach sagen können: "Nein, ich war nicht in der Kirche." Statt dessen haben sie beide irgendwie versucht, zu sagen: "Ja, doch, ich war in einer Kapelle, oder Ähnliches." Aber in einer Kirche waren sie natürlich beide nicht - nicht im klassischen Sinne, dass sie einen Gottesdienst besucht hätten.
Im Wahlprogramm von 2005 beziehungsweise dem Regierungsprogramm von Kanzlerin Merkel damals wurde Religion dagegen noch viel offener behandelt. Da wurde zum Beispiel die Integrationsarbeit noch viel mehr von der Gesellschaft gefordert und noch nicht so sehr von den Muslimen. Da hieß es zum Beispiel: "Dieser Dialog wird nur gelingen, wenn wir insbesondere junge Muslime sozial und beruflich besser integrieren". Also "wir integrieren" und nicht "die Muslime integrieren sich". Da hat sich was verändert.
domradio.de: Wenn Martin Schulz Bundeskanzler würde, würde er den Passus "So wahr mir Gott helfe" weglassen, oder würde er ihn nennen?
Leitlein: Er würde ihn nennen - ziemlich sicher. Und das, obwohl er ja selber von sich sagt, dass er ein Zweifler ist, dass er mit dem Glauben hadert. Ich bin ziemlich sicher, dass er das sagen würde. Allein wegen der Stimmung im Land und wegen dieser Veränderung hin zur Religion als ein Marker, den man eben als Politiker heute vor sich her trägt.
Das Interview führte Tobias Fricke.