Priester im Ahrtal beschreibt Anspannung trotz Wiederaufbau

"Die Stimmung ist ein bisschen kribbelig"

Nach der Flutkatastrophe vom Juli hat die Regierung umfangreiche Finanzhilfen angekündigt. Aber will man wirklich helfen, oder wird das Ahrtal nur für den Wahlkampf genutzt? Die Stimmung vor Ort ist gespalten.

Aufräumarbeiten in Ahrweiler (02.09.21) / © Thomas Frey (dpa)
Aufräumarbeiten in Ahrweiler (02.09.21) / © Thomas Frey ( dpa )

DOMRADIO.DE: Der Bund will für die Flutgebiete einen Aufbaufonds in Höhe von 30 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Das klingt nach viel. Fühlen sich die Betroffenen denn von der Politik ausreichend gesehen und berücksichtigt?

Heiko Marquardsen (Priester in der Pfarreiengemeinschaft Bad Neuenahr/Ahrweiler): Ich glaube, das ist bei uns immer ein bisschen davon abhängig, wen man fragt und wie auch der persönliche Fortschritt im eigenen Haus aussieht. Ich glaube, die Stimmung ist gerade in dem Bereich ein bisschen kribbelig, weil man das ja auch mit Blick auf die Bundestagswahl mitbekommt. Ich habe gestern erst in einem Facebook-Post gesehen, dass das alles ein bisschen als Wahlkampf-Thema plakatiert wird. Die Menschen nehmen das schon mit einer gewissen Gereiztheit zur Kenntnis.

DOMRADIO.DE: Sie haben die Flut und die Folgen in den letzten Wochen hautnah miterlebt. Wie sieht Ihr Alltag in der Pfarrei knapp zwei Monate später aus?

Marquardsen: Man muss sagen, dass sich bei uns die Situation eigentlich wöchentlich ändert. Es gibt Fortschritte. Gott sei Dank. Bedarfssituationen regeln sich neu. Es ist hier immer viel Veränderung mit drin, sodass auch für uns als Kirche ein gewisses Maß an Reaktion auf Veränderung mit dazugehört. Am Anfang war die Präsenz-Seelsorge in der Stadt sehr groß. Das ist zwar immer noch irgendwie ein Teil meiner Arbeit, aber es besteht nicht mehr der hohe Bedarf, glaube ich, nach konkreter Präsenz wie am Anfang.

Man trifft auch weniger Menschen in der Stadt. Die Stadt macht teilweise in vielen Dingen einen sehr ruhigen Eindruck. Was bei uns als Kirche mit dazukommt: Momentan ist das Thema Flutopfer-Beerdigungen sehr groß. Nebenher müssen wir selber schauen, dass wir unsere eigene Struktur nochmal ein Stück geregelter bekommen.

DOMRADIO.DE: Wie hat sich denn die Stimmung unter den Menschen verändert? Ist da mittlerweile eine gewisse Ruhe eingekehrt oder kommt da vieles langsam erst hoch?

Marquardsen: Die Ruhe, die eingekehrt ist, hängt damit zusammen, dass gerade viel Warten angesagt ist. Wir müssen warten, dass Bau-Trockner beikommen, dass Arbeiten weiter gehen können. Eine stabile Elektrik gibt es bis jetzt auch nicht. So sieht es bei uns in der Gemeinde aus. Und bei den Menschen der Stadt ist das auch nicht anders. Es ist, glaube ich, eine notgedrungende Ruhe, eine Ruhe des Wartens. Die spukt momentan in allen Köpfen irgendwo herum. Es ist auch ein Stück Ungleichzeitigkeit, während die einen schon ein bisschen weiter sind als die anderen. Es ist, glaube ich, für die Menschen auch nicht unbedingt leicht zu sehen, wenn es bei ihnen nicht so schnell weiter geht wie bei anderen.

DOMRADIO.DE: Was sind denn die größten Sorgen der Menschen? Sind es eher die materiellen oder eher die psychischen und seelischen?

Marquardsen: Momentan tatsächlich eher das Materielle, dass alles wieder aufgebaut wird, was im eigenen Haus kaputt gegangen ist. Ich habe letztens noch mit einem Mann gesprochen, der sagte: Je mehr ich hier an meinem Haus arbeite und aufräume, desto mehr entdecke ich, wie groß der Schaden ist. Das ist, glaube ich, exemplarisch für das, was momentan bei uns die Lage beschreibt. Man entdeckt erst nach und nach das Ausmaß des eigenen Schadens.

Es ist wie in der Stadt. Ich war letztens mit jemandem in einer Ecke der Stadt ein bisschen außerhalb spazieren, in der ich bis dahin noch nicht war. Da bin ich auf etwas gestoßen, was ich unbeschadet gar nicht kannte. Vorher war da mal ein kleines grünes Stück Wäldchen, das jetzt wie eine Mondlandschaft aussieht, voll mit Löchern, Kratern und einer Brücke, die nicht mehr da steht, wo sie mal gestanden hat. Das hat mich schon sprachlos gemacht und mir auch nochmal ein Stück des Schadensausmaßes aufgezeigt.

DOMRADIO.DE: Sie sind auch Seelsorger. Hören Sie auch schon mal Fragen gehört, wie Gott das zulassen konnte?

Marquardsen: Ja, es war am Anfang in der akuten Phase noch deutlich präsenter. Dieses Thema der Theodizee (Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels und Bösen, das mit dem Glauben an seine Allmacht, Weisheit und Güte in Einklang zu bringen gesucht wird, Anm. d. Red.) ließ die Menschen gleich am Anfang nicht mehr los. Wenn wir sagen: Gott ist allmächtig, Gott liebt die Menschen und ist auf der Seite der Menschen, dann ist so ein Hochwasser und so eine Flut schwer damit in Einklang zu bringen. Ich meine, das ist eine sehr alte Frage, die die Menschen schon immer begleitet hat. Dass das Thema auftaucht, ist, glaube ich, nicht verwunderlich.

Aber das hat sich mittlerweile gelegt. Das zeigt sich dadurch, dass Fortschritte passieren, dass Menschen sich gegenseitig aufrichten. Und das zeigt sich vielleicht auch durch Gottes Art, eine Unterstützung zu bieten, die sich womöglich durch die vielen freiwilligen Helfer ausdrückt. Oder es ist das eine nette Wort, was jemand sagt. Oder es ist dieser eine Lichtblick, der auch eine Form von Gottes Gegenwart ist und Gott weniger der Strafende ist, der wie bei Noah in der Bibel eine Flut auf den Menschen reinpasseln hat lassen. Das ist Gott sei Dank kein so großes Thema mehr.

Das Interview führte Hannah Krewer.


Pfarrer Heiko Marquardsen (privat)
Pfarrer Heiko Marquardsen / ( privat )
Quelle:
DR