Die Ukraine bereitet sich auf einen harten Kriegswinter vor

Augenzeugenberichte aus der Kälte

Die Ukraine steht vor ihrem dritten Kriegswinter. Wie denken die Menschen über die Lage im Land - und wie könnte ein Friedensschluss aussehen? Auf der Suche nach Antworten bei einem Bischof und einem Künstler.

Autor/in:
Bernhard Clasen
Immer wieder kommt es in ukrainischen Orten zu Stromausfällen / © Not credited (dpa)
Immer wieder kommt es in ukrainischen Orten zu Stromausfällen / © Not credited ( dpa )

Die Gewalt in der Ukraine hat erneut zugenommen, konstatierte unlängst der Norwegische Flüchtlingsrat und warnte gleichzeitig vor einem schweren Winter. Insbesondere in Odessa und Cherson seien die Menschen weiterhin massiven Angriffen durch russische Drohnen und Raketen ausgesetzt.

Während alle in der Ukraine von den Luftangriffen, den Stromausfällen, dem Verlust geliebter Menschen an der Front und der Verarmung gleichermaßen betroffen sind, sieht man die Ursachen dieses Krieges und die Wege, aus dieser Krise wieder herauszukommen, sehr unterschiedlich.

Stanislaw Schyrokoradjuk, der römisch-katholische Bischof von Odessa-Simferopol und der in Odessa in einer Künstlerfamilie geborene Künstler Sergej Anufriew leben und arbeiten im Stadtzentrum von Odessa. Doch bei der geografischen Nähe enden auch schon ihre Gemeinsamkeiten.


Der Bischof: Ohne Kampf kein Frieden

Der vergangene Winter, sagt Bischof Schyrokoradjuk der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), sei eine schwere Prüfung für die Ukraine gewesen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des vergangenen Jahres sei man nun besser vorbereitet.

"Natürlich wollen wir alle Frieden. Nüchtern betrachtet müssen wir jedoch auch sehen, dass es aktuell kaum Chancen auf eine Beendigung des Krieges gibt", erläutert der Geistliche. Ein vorübergehender Waffenstillstand löse das Problem nicht. "Die Ukraine sieht keine Möglichkeit, mit Russland eine Vereinbarung zu treffen, da das Vertrauen gegenüber dem Aggressor komplett verloren gegangen ist." Und da es naiv sei, an die Ehrlichkeit von Russlands Präsident Wladimir Putin zu glauben, bleibe den Ukrainern keine andere Wahl als weiter für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen.

Wolle man die Ursachen dieses Krieges verstehen, so Bischof Schyrokoradjuk, gelte es drei Faktoren zu berücksichtigen: die ukrainische Unabhängigkeitserklärung und ihr Bemühen, frei zu sein, das ukrainische Streben Richtung Europa und NATO, die man als Sicherheitsgarantie sehe, und die ukrainische Entscheidung, sich vom kommunistischen und sowjetischen Erbe loszulösen. "Da sich Russland damit nicht abfinden will, will es uns das Recht auf Freiheit und die Freiheit der Wahl nehmen - und will, dass wir uns Russland unterordnen."

Ukraine im Winter / © Evgeniy Maloletka (dpa)
Ukraine im Winter / © Evgeniy Maloletka ( dpa )

Natürlich wünsche man sich in der Ukraine Frieden sehnlich herbei: "Doch was ist der Preis? Niemand ist bereit, seine Freiheit für einen vorübergehenden Waffenstillstand aufzugeben." Ein Verlust der Freiheit sei das Ende des Landes. Da die Ukraine wisse, wozu Russland imstande sei, liege der Weg zum Frieden im Kampf, so der Bischof.

"Dieser Krieg ist eine große Herausforderung für jeden Ukrainer. Die Verluste sind hoch, der Preis unserer Unabhängigkeit ist hoch. Aber die Mehrheit weiß, dass es keinen anderen Ausweg gibt." Inzwischen hätten die Ukrainer gelernt, unter den Bedingungen eines Krieges zu leben: "Sie hoffen auf einen gerechten Frieden, glauben an ihren Sieg und daran, dass Gott unserem Land hilft, all die Schwierigkeiten zu überstehen."

Der Künstler: Krieg verhindert Frieden

Der Künstler Sergej Anufriew lebt seit vielen Jahren in seiner Geburtsstadt Odessa. Sein Problem: er besitzt die russische Staatsbürgerschaft. Anufriew lebt vom Verkauf seiner Bilder und bietet online philosophische Beratung an. "Die Nachricht vom Krieg im Februar 2022 war für mich wie ein Todesurteil", sagt er: "Mein ganzes Leben habe ich so einen inneren Ofen gehabt, der meinen Körper mit Wärme durchströmt hat. Aber seit Februar 2022 strömt Kälte durch meinen Körper." Er habe keine Freunde mehr, fügt der Künstler hinzu: "Die einen sind an der Front ums Leben gekommen, andere sind geflohen, wieder andere haben den Verstand verloren."

Der Alltag im Krieg ist besonders für die Kinder belastend / ©  Vesa Moilanen (dpa)
Der Alltag im Krieg ist besonders für die Kinder belastend / © Vesa Moilanen ( dpa )

Erst vor kurzem sei seine Frau gestorben, in Moskau, aber "ich konnte nicht zur Beerdigung. In Russland hätte man mich sofort festgenommen, mir einen Sack über den Kopf gezogen, mich in U-Haft gesteckt, nur weil ich aus der Ukraine komme." Doch auch in der Ukraine habe er Probleme - wegen seiner russischen Staatsbürgerschaft: "Einmal hat die Polizei mich hier in Odessa, als sie meinen Pass gesehen haben, festgenommen, mir einen Sack über den Kopf gezogen, die Hände gefesselt, mich so mehrere Stunden festgesetzt."

Anufriews ältester Sohn kämpft als Freiwilliger in der ukrainischen Armee - ein anderer Sohn ist in der russischen Armee. "Mit meinen Söhnen darf ich keinen Kontakt aufnehmen. Wenn ich mit meinem Sohn auf der ukrainischen Seite der Front kommunizieren würde, würde er Probleme bekommen, wenn herauskäme, dass er mit einem russischen Staatsbürger in Kontakt ist. Und der andere Sohn in Russland würde Probleme bekommen, wenn herauskäme, dass er mit einer Person, die in der Ukraine lebt, in Kontakt steht."

Er sei immer Pazifist gewesen. Schon in der Sowjetunion habe er alles gemacht, um dem Militärdienst zu entgehen, betont Anufriew. "Auch jetzt bin ich nicht bereit, mit der Waffe zu kämpfen. Ich denke, dieser Krieg ist vom Westen provoziert. Ich fürchte eine weitere Eskalation. Einen Waffenstillstand wird es nur geben, wenn noch mal das passieren wird, was die Amerikaner während des Vietnam-Krieges gemacht haben: sie haben gegen den Krieg demonstriert." Der Künstler ist sich sicher: "Weder Trump, noch Biden, Selenskyj oder Putin werden den Krieg von sich aus beenden."

Deutschland beherbergt die meisten Ukraine-Flüchtlinge in der EU

Die Zahl der Kriegsvertriebenen aus der Ukraine mit temporärem Schutzstatus in der EU hat wieder die Marke von vier Millionen überschritten. Fast drei von zehn fanden Aufnahme in Deutschland, wie das europäische Statistikamt Eurostat (Mittwoch) in Luxemburg mitteilte. Demnach beherbergte die Bundesrepublik zum Stichtag 30. Juni über 1,1 Millionen Ukrainer und andere Drittstaatsangehörige, die vor dem Krieg geflohen sind, mehr als jedes andere EU-Land.

Anastasiia Kramarenko, Geflüchtete aus der Ukraine, mit ihrem Baby auf dem Schoß und ihrem Sohn daneben in ihrer Unterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn am 6. Dezember 2022. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Anastasiia Kramarenko, Geflüchtete aus der Ukraine, mit ihrem Baby auf dem Schoß und ihrem Sohn daneben in ihrer Unterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn am 6. Dezember 2022. / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA