DOMRADIO.DE: Mit welchem Gefühl schauen Sie heute nach Rom?
Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Man muss ganz deutlich sagen: Die vatikanische Justiz steht heute vor einer Bewährungsprobe, vor einem Lackmustest. Denn wir haben ja Besonderheiten in der vatikanischen Judikatur. Man muss immer bedenken, dass in der Vatikanstadt der Papst der Herr des Gesetzes ist. Das heißt, unseren Begriff von der Rechtsstaatlichkeit können wir gar nicht anwenden auf die vatikanische Rechtsprechung. Alles wird im Namen des Papstes entschieden. Der Papst kann in jedem Prozess, in jeden Abschnitt eines Prozesses eingreifen. Er kann Gesetze ändern, er kann bestimmte Vorgaben machen. Das kann er auch in der Strafverfolgung. Und das haben wir in der Vergangenheit immer wieder gesehen. Das macht das Ganze sehr schwierig.
DOMRADIO.DE: Der Hauptangeklagte ist Kardinal Angelo Becciu, der frühere Stabschef im vatikanischen Staatssekretariat. Welche Rolle spielt er in diesem Prozess? Was wird ihm hauptsächlich vorgeworfen?
Nersinger: Eine ganze Reihe Vorwürfe wurden gegen ihn erhoben. Darunter sind Korruption, Geldwäsche, Unterschlagung, Betrug, Erpressung, Amtsanmaßung. Das ist ein weites Spektrum, was auch die anderen Angeklagten betrifft. Das sind natürlich gewaltige Vorwürfe. Ob sie sich bestätigen, das wird sich wiederum zeigen, denn wir haben ja auch in der bisherigen Behandlung des Kardinals Seltsamkeiten erlebt. Er ist ja beispielsweise degradiert worden, aber nicht so ganz. Man hat ihn zu einer Art halbem Kardinal gemacht, er hat nicht mehr das Recht am Konklave teilzunehmen. Aber das sind ja alles Sachen, die eigentlich eine klarere Definition erfordern.
DOMRADIO.DE: Sie haben es eben gesagt, es stehen auch noch andere Personen vor Gericht. Wer sind diese Menschen?
Nersinger: Unter anderem ist da René Brülhart. Das ist der Finanzaufsichtschef des Vatikans gewesen, eigentlich ein sehr anerkannter Mann mit einem sehr seriösen Ruf. Dann sind auch Finanzmanager Tommaso di Ruzza, Raffaele Mincione und Enrico Grasso. Und es gibt noch eine sehr seltsame, sehr farbenfrohe Gestalt, eine Frau, Cecilia Marogna, eine Sardin. Sie soll Geheimaufträge für den Vatikan ausgeführt haben. Aber da scheint das Geld doch eher in Modeartikel oder in Taschen von Prada und andere Luxusfirmen geflossen zu sein.
DOMRADIO.DE: Es werden auch Zeugen in diesem Prozess vorgeladen. Welche wichtigen Personen sollen dann aussagen?
Nersinger: Leute aus dem Staatssekretariat werden dabei sein. Manche wenden aber auch ein, dass die Zeugen unter Umständen hier auch involviert sind. Das ist eine Seltsamkeit und eine Sache, die einem etwas Magengrummeln bereitet. Das wird alles nicht so ganz einfach werden, befürchte ich.
DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist die lückenlose Aufklärung dieses Skandals für den Vatikan?
Nersinger: Die wäre sehr, sehr wichtig. Auch weil der Papst versucht hat, alles transparenter zu machen und auch mehr Rechtsstaatlichkeit zu schaffen. Aber das wird schwierig sein, denn die Vergangenheit hat uns ja anderes gelehrt. Und das wird eben, wie schon gesagt, ein Lackmustest werden für die vatikanische Justiz. Und wir werden sehen, ob das wirklich Aufklärung bringt, ob das Transparenz bringt oder ob das zum so genannten Hornberger Schießen wird.
DOMRADIO.DE: Bei all diesen Fragezeichen, die Sie uns gerade geschildert haben, lässt sich überhaupt einschätzen, wann mit einem Urteil zu rechnen ist?
Nersinger: Nein, eigentlich nicht. Aber wir haben ja auch die Seltsamkeit gehabt in der Vergangenheit, dass bevor ein Urteil gesprochen wurde, man ja schon von Begnadigungen und ähnlichen Sachen sprach. Denken wir an die Vatileaks-Affäre, die erstens nicht ganz aufgeklärt ist und wo man dann bei manchen Straftätern schon vor der Urteilsverkündung von der Begnadigung sprach. Wir haben das ja auch gesehen, beim Kammerdiener von Papst Benedikt, dass das so geschehen ist. Das erzeugt natürlich in einer Rechtsprechung und einer Betrachtung einer Rechtsprechung ein sehr ungutes Gefühl. Bei aller Barmherzigkeit, die man anwenden kann.
Das Gespräch führte Carsten Döpp.