DOMRADIO.DE: Die Gruppe "Aufstand der letzten Generation" schreibt über sich: "Die massiven Störungen im Hafen sind nichts im Vergleich zu Störungen durch Fluten, durch Dürren, durch Essensknappheit". Wie schätzen Sie das ein? Ist dieser Protest aus Ihrer Sicht angemessen?
Mattias Kiefer (Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der deutschen Diözesen): Ich glaube, anstatt in vorschnelle Empörung zu verfallen, hilft es, so einen Protest zu kontextualisieren. Wenn man dies tut, dann sieht man, dass er sich einreiht in eine lange Geschichte zivilen Ungehorsams in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. In den verschiedenen Etappen dieser Geschichte hat es durchaus auch rechtstheoretisch eine Weiterentwicklung des Tatbestandes der Nötigung gegeben. Diese Etappen sind unterschiedlich bewertet worden, aus unterschiedlichen Perspektiven. Und diese unterschiedlichen Bewertungen, glaube ich, die gelten auch für den aktuellen Protest.
Womit sie zweifelsohne recht haben, ist, dass die aktuelle Generation die letzte ist, die die Klimaerwärmung mit wirklich desaströsen Folgen für den Planeten und die Menschheit auf diesem Planeten noch abwenden kann. Dazu aber wäre tiefgreifendes und weitreichendes Handeln nötig. Dass dieses nicht erfolgt, ist offensichtlich der überwiegende Eindruck bei dem Protestierern. Deshalb greifen sie dann zu diesen Mitteln. Ob das angemessen ist... Was ist angemessen? Nach welchen Bewertungsmaßstäben beantworte ich diese Frage? Man muss schon feststellen: Wenn wir in den letzten beiden Pandemie-Jahren eines gelernt haben, dann dass sich die Maßstäbe von einst durch schnell ändernde Umstände mit ändern.
DOMRADIO.DE: Ja, das stimmt. Aber es gibt viel Kritik an diesen Protesten, vor allen Dingen auch aus der Politik. Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir spricht von Erpressung.
Kiefer: Kretschmann auch.
DOMRADIO.DE: Und manchmal heiligt der Zweck die Mittel. Sehen Sie das auch so?
Kiefer: Also zum ersten, was der Bundeslandwirtschaftsminister gesagt hat... vielleicht bedeutet in Regierungsverantwortung zu stehen dann auch ein Perspektivwechsel. Ohne ihm jetzt persönlich zu nahe treten wollen, ist es vielleicht doch so, dass wenn man älter wird, manches, was man früher selbst getan hat, anders bewertet. Im Ernst, ich glaube, ein Gutteil der jetzigen Empörung ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass es junge Menschen sind, die sich in den Augen vieler erdreisten, die gewohnten Abläufe durcheinander zu bringen. Die Jugend der Protestierer stört am meisten.
Ob der Zweck die Mittel heiligt, das ist eine alte Debatte in der Ethik, in der Moralphilosophie, auch in der theologischen Ethik, und die Antwort ist bei fast allen sehr klar: Nein, nicht jeder Zweck heiligt jedes Mittel. Das ist aber auch bei den Protestierern überhaupt nicht bestritten, weil ganz klar ist: Weit überwiegender Konsens ist, dass die Grenze des Protests bei der Gewaltanwendung gegenüber Sachen und natürlich erst recht gegenüber Personen liegt.
DOMRADIO.DE: Wenn man das jetzt mit "Fridays for Future" vergleicht, die auch für den Klimaschutz und Nachhaltigkeit einstehen: Die schwänzen nur die Schule, sind aber ansonsten zurückhaltend im Sinne von friedlich. Wäre das nicht die bessere Protestform in Ihren Augen?
Kiefer: "Fridays for Future" und die ihnen nahestehenden Organisationen haben mit ihrem Ansatz, der vor der Pandemie sehr, sehr erfolgreich war, erreicht, dass sie möglichst viele mitnehmen. Dieses "Möglichst viele mitnehmen" hat ein Momentum in der Gesamtgesellschaft erzeugt, das es möglich machte, dass die deutsche Klimapolitik, die über Jahre mehr oder weniger im Koma lag, 2019 plötzlich ein Klimaschutzgesetz im Bundestag verabschiedete, was mit dem Einstieg in die CO2-Bepreisung einen echten Paradigmenwechsel bedeutete. Insofern kann man schon sagen: Der Erfolg spricht für den Ansatz der Fridays.
Was man noch nicht sagen kann ist, dass der Erfolg der jetzigen Proteste sich irgendwo abzeichnen würde. Außer dass wir in diesem Interview darüber reden und insofern natürlich schon eine Bestätigung dessen ist, dass manche Protestformen eine gewisse Aufmerksamkeit erzeugen, vielleicht sogar garantieren.
DOMRADIO.DE: Sie sind der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Umweltschutzbeauftragten der deutschen Diözesen und Erzdiözesen. Was tun Sie in der Arbeitsgemeinschaft, um den Klimaschutz auch in der Kirche auszuweiten?
Kiefer Es ist ja eine AG der diözesanen Umweltbeauftragten. Die diözesanen Umweltbeauftragten haben als Hauptauftrag in ihren jeweiligen Bistümern mit dazu beizutragen, den eigenen ökologischen Fußabdruck deutlich zu reduzieren. Bezogen auf das Handlungsfeld Klimawandel heißt das natürlich eine schnellstmögliche Verringerung der eigenen Treibhausgasemissionen. Die wesentliche Stellschraube dafür - jetzt im kirchlichen Kontext - sind die Gebäude, die für etwa 80 Prozent der kirchlichen Treibhausgasemissionen verantwortlich zeichnen. Da Reduktionen zu erreichen ist das Alltagsgeschäft in unseren Bistümern.
Wir versuchen darüber hinaus, unseren Leitungen die Dringlichkeit des Handelns klarzumachen. Da ist vielleicht auch die Brücke zu den aktuellen Protesten, weil – das muss man selbst kritisch eingestehen – auch in vielen Bistumsleitungen diese Dringlichkeit, jetzt endlich ins Handeln zu kommen, noch nicht wirklich gegeben ist. Auf jeden Fall nicht flächendeckend.
Ein Beispiel dazu: Wir haben diözesane Gesamtemissionen. Wir haben das Ziel, bis spätestens 2045 klimaneutral zu werden – das ist das Ziel der Bundesregierung, die Wissenschaft sagt, es müsste deutlich früher erreicht werden. Nehmen wir mal der Einfachheit halber die 2045. Das heißt, wir haben von 2022 abgerechnet noch 23 Jahre.
Sie haben also diözesane Gesamtemissionen, teilen diese durch 23 und kommen zu ihrem jährlichen Reduktionsziel. Wir haben jetzt der Einfachheit halber eine lineare Abnahme angenommen. Sie rechnen dies um in Ihren Gebäudebestand und dann wissen Sie, wie viele Gebäude Sie als Bistum pro Jahr entweder abgeben müssen und, oder klimaneutral sanieren.
Und diese Sanierungsquote, die erreicht aktuell und meiner Prognose nach auf absehbare Zeit kein einziges Bistum. Auch deshalb, weil die Notwendigkeit, jetzt schnell ins Handeln zu kommen, noch nicht überall verstanden wurde. Und da ist die Brücke zu dem, was "die letzte Generation" – wie sie sich nennen – gesamtgesellschaftlich oder in Bezug auf die Politik beklagt, bemängelt und versucht durch ihre Proteste anders zu gestalten.
Das Interview führte Tobias Fricke.