DOMRADIO.DE: Hat Sie der massive Anstieg der Kirchenaustrittszahlen überrascht?
Tim Kurzbach (Vorsitzender des Diözesanrates im Erzbistum Köln): Wenn man die echten Zahlen sieht, ist es noch mal brutaler. Aber eigentlich war es die zu erwartend hohe Zahl gewesen. Wen hat es bei all dem, was wir in den letzten Jahren hinter uns haben, noch gewundert?
Und wie viele überlegen auch jetzt noch, ob man überhaupt dabeibleiben kann? Von daher ist der Tag, an dem man solche Zahl sieht, immer hart. Aber die Entwicklung dahin war ganz klar erkennbar.
DOMRADIO.DE: Es fällt bei einem Blick auf die Statistiken auf, dass fast gleich große Bistümer, wie zum Beispiel München und Köln, ähnlich hohe Austrittszahlen haben. Wie sieht Ihre Ursachenanalyse aus?
Kurzbach: Die Analyse ist natürlich differenziert. Das schwerste und größte Übel ist, dass wir seit über zehn Jahren eine Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland machen, ohne dass irgendjemand überhaupt einmal wahrhaftig dafür Verantwortung übernommen hätte.
Das ist sicherlich das Schwerwiegendste, was einem als Mensch auch am nächsten geht und wo immer noch keine Veränderung passiert ist.
Aber darüber hinaus reden wir seit vielen Jahren schon über Veränderung und Modernisierung der katholischen Kirche. Auch da passiert nicht wirklich etwas. Das frustriert die Menschen zutiefst.
Wenn es dann noch zu solchen Geschichten wie bei in Köln kommt, wo sich mittlerweile ein Papst und ein Kardinal öffentlich darüber auseinandersetzen, wer jetzt die Deutungshoheit darüber hat, ob jemand in die Auszeit gegangen ist oder seinen Rücktritt angeboten hat, dann ist das ein bisschen wie ein Auto, was sich nach einem Unfall vielfach überschlägt. Da fragt man sich auch, wann das irgendwann einmal aufhört. Das ist ja nur noch fürchterlich.
DOMRADIO.DE: Der Papst hat in einem Interview im Mai betont, er habe über einen möglichen Rücktritt von Kardinal Woelki noch nicht entschieden. Wie sehr ist diese Hängepartie Teil des Problems?
Kurzbach: Zumindest ist das keine Lösung. Das wird überhaupt niemandem gerecht. Weder jemandem in Rom, noch in Köln. In der Tat frustriert diese Hängepartie auch sehr.
Aber wir müssen sehen, dass uns gerade die Menschen aus dem innersten Bereich der Pfarrgemeinden verlassen. Es gab immer Austritte von Menschen, die etwas entfernter und distanzierter waren. Jetzt ist es so, dass Menschen, die wir aus dem Pfarrgemeinderat oder den Verbänden kennen, sagen, dass sie das nicht mehr weiter mitmachen.
Und eine Besonderheit, die in der Kommentierung ein bisschen zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass Menschen ihre Kinder kaum noch taufen lassen. Also nicht nur die Austritte sind bedenklich. Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht mehr wünschen, dass ihr Kind getauft wird. Auch das hat dramatische Aussagen für die Zukunft.
DOMRADIO.DE: Wie kann der Diözesanrat helfen, dass nicht mehr so viele Menschen der Kirche den Rücken zukehren?
Kurzbach: Der Diözesanrat ist die Verbindung der Menschen, die sich in Pfarrgemeinden, Pfarrgemeinderäten und Verbänden engagieren. Wenn diejenigen nicht jeden Tag da draußen in den Gemeinden und Verbänden mit anpacken würden, wäre das Desaster noch viel größer.
Ich betrachte zum Beispiel die Ferien, wo viele Jugendverbände Freizeiten machen. Das ist auch ein Teil von Kirche.
Wir sagen immer offen und ehrlich unsere Meinung, da wo der Schuh drückt. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass Amtsträger das eben nicht so erkennen. Schauen Sie auf diese Zahlen. Da wird jetzt pathologisch genau gedeutet, warum das jetzt mal im Verhältnis mehr und mal weniger sind, anstatt alle Alarmglocken schrillen zu lassen, um zu sagen, dass wir uns jetzt engagieren müssen.
Schon im biblischen Bild ist uns nicht nur ein Schaf verloren gegangen, sondern jedes Jahr sind es dann 1,2,3. Uns uns wird erklärt, wir sind ja noch 97,96,95. Und dann kann das Ganze so bleiben. Das ist weder im Sinne Jesu Christi, noch im Sinne der Zukunft unserer Kirche.
Das Interview führte Michelle Olion.