Dogmatiker Ansorge wünscht sich mehr kulturelle Vielfalt in der Kirche

"Alle Getauften tragen Verantwortung"

Vor 60 Jahren wurde mit "Lumen Gentium" einer der wichtigsten Texte der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert verabschiedet. Dogmatiker Dirk Ansorge würdigt das Dokument und sieht darin Entwicklungspotenzial für die Weltkirche.

Bischöfe aus aller Welt beim Zweiten Vatikanischen Konzil (KNA)
Bischöfe aus aller Welt beim Zweiten Vatikanischen Konzil / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Am 21. November 1964 wurde die dogmatische Konstitution "Lumen Gentium" (Licht der Völker) mit großer Mehrheit vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet. Das Besondere: Durch sie wurde das Kirchenbild nachhaltig verändert. Bis heute berufen sich vor allem Reformkräfte auf diesen Text. Die Stärkung der Bischöfe, die Kirche als pilgerndes Gottesvolk und die Rolle der Laien, das sind nur einige Stichwörter. Wie revolutionär ist aus heutiger Sicht "Lumen Gentium" gewesen? 

Professor Dirk Ansorge, Vorsitzender des Katholisch-Theologischen Fakultätentags (KThF) / © Annika Schmitz (KNA)
Professor Dirk Ansorge, Vorsitzender des Katholisch-Theologischen Fakultätentags (KThF) / © Annika Schmitz ( KNA )

Dirk Ansorge (Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main): "Lumen Gentium" ist insofern revolutionär gewesen, als dass diese dogmatische Konstitution eine neue Perspektive auf die Kirche eröffnet hat. Wie kennen die Entwürfe, die vor dem Konzil aus der Kurie hervorgegangen sind und die allesamt von den Konzilsvätern zurückgewiesen wurden. 

In diesen Entwürfen wird ein sehr streng hierarchisches Kirchenbild vertreten. Schon in der Gliederung von "Lumen Gentium" wird nach einer Besinnung auf das Mysterium der Kirche die gemeinsame Würde aller Getauften als Volk Gottes an den Anfang gestellt, wordurch die Gemeinsamkeit des Glaubens vor die Hierarchie des Amtes gestellt wird. 

DOMRADIO.DE: In diesem Dokument nehmen auch die Laien eine besondere Rolle ein. Ein wichtiges Stichwort ist das gemeinsame Priestertum. Haben die Laien bis zu "Lumen Gentium" im theologischen Denken überhaupt keine Rolle gespielt? 

Ansorge: Natürlich haben sie eine Rolle gespielt. Sie haben das Kirchenvolk konstituiert, sie sind getauft, aber sie waren im Grunde diejenigen, die der verlängerte Arm des Lehramtes waren.

Bei der französischen "Action Catholique" war das vor dem Konzil der leitende Gedanke: Dort, wo die Bischöfe oder die Priester nicht hineinwirken können, in die Fabriken beispielsweise oder auch in die Politik, dort waren die Laien diejenigen, die im Auftrag der Bischöfe und Priester das Evangelium bezeugen sollten. 

DOMRADIO.DE: Und doch heißt es in "Lumen Gentium" auch, das gemeinsame Priestertum und das hierarchische Priestertum seien wesensverschieden. Was hat das zu bedeuten? 

Dirk Ansorge

"Das sakramentale Amt repräsentiert das Gegenüber Jesu Christi im Bezug auf die Kirche."

Ansorge: Das ergibt sich aus dem katholischen Verständnis des kirchlichen Amtes. Das sakramentale Amt repräsentiert das Gegenüber Jesu Christi im Bezug auf die Kirche. Die Kirche ist nicht eine Vereinigung von Menschen, die sich selbst ein Grundgesetz geben, sondern sie ist die Gemeinschaft jener Menschen, die auf die Offenbarung hört und im Glauben antwortet.

Diese Offenbarung wird in der Kirche durch das sakramentale Amt repräsentiert, zu dem wesentlich die Bischöfe und die Priester und auch die Diakone gehören. 

Abschlussmesse der Weltsynode mit Papst Franziskus im Petersdom im Vatikan am 27. Oktober 2024 / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Abschlussmesse der Weltsynode mit Papst Franziskus im Petersdom im Vatikan am 27. Oktober 2024 / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Das kirchliche Lehramt wird repräsentiert durch den Papst und die Bischöfe, nicht durch die Laien? 

Ansorge: In der Tat. Denn das kirchliche Lehramt versteht sich so, dass es die Kompetenz hat, über das zu urteilen, was allen gemeinsam ist, nämlich den Glaubenssinn aller Getauften.

Dirk Ansorge

"Alle Getauften haben aber, wie jetzt auch das Schlussdokument der soeben beendeten Synode sagt, einen 'Glaubensinstinkt'."

Alle Getauften haben aber, wie jetzt auch das Schlussdokument der soeben beendeten Synode sagt, einen "Glaubensinstinkt". Aber damit das Ganze in eine Gemeinschaft des Glaubens zusammenfließt, auch in eine Gemeinschaft bereichernder Vielfalt, gibt es das Recht des Lehramtes, darüber zu urteilen. 

DOMRADIO.DE: Durch "Lumen Gentium" wurde die Rolle der Bischöfe gestärkt. Heute ist das Thema Macht und Hierarchie zentral in der Kirche, vor allem mit Blick auf die Fälle sexualisierter Gewalt. Wie sehr können sich Befürworter von weitreichenden Reformen auf "Lumen Gentium" berufen, das besonders die Rolle der Bischöfe gestärkt hat? 

Ansorge: Dadurch, dass man das Kapitel über das Volk Gottes vor das Kapitel über die Rolle der Bischöfe gestellt hat, wird die gemeinsame Berufung und auch die gemeinsame Verantwortung aller Getauften betont. 

An späterer Stelle gibt es in "Lumen Gentium" die Aussage, dass alle Getauften - also auch die Laien - das Recht, bisweilen sogar die Pflicht haben, den Bischöfen ihre Besorgnisse kundzutun, wenn sie Entwicklungen in der Kirche wahrnehmen, die nach ihrer Auffassung dem Evangelium widersprechen.

DOMRADIO.DE: Ob die Besorgnisse als begründet erachtet werden, die letzte Entscheidung darüber steht wieder bei Papst und Bischöfen. War im Nachhinein "Lumen Gentium" mit Reformvorstellungen überfrachtet, die beim nüchternen Lesen gar nicht drinstehen?

Ansorge: "Lumen Gentium" bestreitet den Vorrang des Lehramtes überhaupt nicht. Besonders das 25. Kapitel ist sehr traditionell in seinen entsprechenden Aussagen. Aber noch einmal: Immer wieder wird die gemeinsame und verbindende Grundlage des Glaubens betont, übrigens nicht nur in dem Kapitel über das Volk Gottes, sondern auch später, wo es um die Berufung zum Ordensleben geht. Dort wird die allgemeine Berufung zur Heiligkeit vorangestellt, bevor es um die Ordensleute geht.

Dirk Ansorge

"Kirche kann nur gemeinsam gelingen."

Dadurch ist eine theologische Grundlage dafür gegeben, vom "sensus fidelium", also dem Glaubenssinn aller Getauften, zu sprechen. Das Schlussdokument der Bischofssynode in Rom betont genau das: Alle Getauften tragen Verantwortung für die gemeinsame Sendung. Kirche kann nur gemeinsam gelingen. Das ist dieser "Synodos", der gemeinsame Weg, den wir als Kirche gehen sollen. 

DOMRADIO.DE: 60 Jahre ist das Dokument nun alt. Auch Konzilsdokumente haben natürlich ihre zeitlichen Kontexte. Wie könnte man mit Blick auf unsere moderne Welt und die dramatischen Veränderungen auch für die Kirche die Grundlinien dieses Dokuments heute fortschreiben? 

Ansorge: Indem man die kulturelle Vielfalt in der Kirche berücksichtigt. Wenn wir uns 60 Jahre zurückversetzen, ist das Konzil zwar mit Bischöfen aus Afrika, Asien, Indien, Lateinamerika besetzt gewesen. Aber das waren vielfach Missionsbischöfe, die aus Europa gekommen sind und dann Bischöfe beispielsweise in Afrika wurden. Aber afrikanische Bischöfe waren nur in geringer Zahl anwesend.

Hier hat sich in den letzten 60 Jahren sehr, sehr viel getan. Wir haben eine globale Kirche. Die Bischöfe, ja alle Teilnehmer an der jüngsten Synode kamen aus ganz verschiedenen kulturellen Kontexten. Hier ist es nötig, auf synodale Weise zu klären, was Kirche in sehr unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten bedeutet. Natürlich sind dann auch die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, für die Sendung der Kirche und auch für ihre Strukturen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Zweites Vatikanisches Konzil

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) war die bislang letzte beschlussfassende Versammlung aller Bischöfe der katholischen Weltkirche. Rund 2.800 Konzilsväter debattierten im Petersdom darüber, wie die Kirche ihre Botschaft unter den Bedingungen der modernen Welt und von weltanschaulichem Pluralismus verkünden kann. Weitere Themen waren eine Reform von Liturgie und Priesterausbildung, die Einheit der Christen und die Aussöhnung von Kirche und Judentum.

II. Vatikanisches Konzil vom 11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember 1965 / © N.N. (KNA)
II. Vatikanisches Konzil vom 11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember 1965 / © N.N. ( KNA )
Quelle:
DR