DOMRADIO.DE: Was war Dein erster Eindruck nach der Pressekonferenz?
Ingo Brüggenjürgen (Chefredakteur DOMRADIO.DE): Nach dieser Pressekonferenz bleibt man eigentlich fassungslos zurück. Ich habe die Pressekonferenzen in Aachen, Münster und Osnabrück verfolgt und war natürlich bei uns in Köln wie jetzt in München dabei. Es macht einen aber immer noch fassungslos.
Diese Bilanz des Schreckens erschüttert. Alle Erzbischöfe und Kardinäle in München haben versagt, haben nach Ansicht der Gutachter Pflichtverletzungen begangen. Da denkt man: Das darf doch alles nicht wahr sein. Das lässt einen erschrocken und erschüttert zurück. Dem amtierenden Erzbischof Kardinal Marx werden zwei Pflichtverletzungen zur Last gelegt, Kardinal Ratzinger vier Fälle, Kardinal Wetter 23 usw. Seit 1945 bis in die jüngste Vergangenheit Plichtverletzungen - natürlich auch bei den Generalvikaren.
Wenn man dann noch die gesamte Zahl sieht: 235 mutmaßliche Täter, davon 173 Priester. Das erschreckt. Und noch schlimmer: Keiner scheint richtig Verantwortung zu übernehmen. Alle ducken sich irgendwie weg, sagen, sie haben es nicht richtig gewusst. Sie waren nicht zuständig. Es beschämt, was Frau Dr. Westphal, eine der Anwälte der Kanzlei, gesagt hat. Sie hat gesagt, sie als Kommunionkind habe gelernt, dass es bei der Beichte zuerst eine gute Gewissenserforschung, dann das offene Bekenntnis und dann ehrliche Reue gibt. Das alles gilt offenbar nicht für die Kirche selber. So drastisch hat sie das formuliert. Deutlicher kann man es ja gar nicht sagen.
DOMRADIO.DE: Ganz besonders im Fokus des Interesses stand natürlich Joseph Ratzinger, der heutige Papst emeritus Benedikt XVI. und seine Rolle damals. Was ist dazu bekannt geworden?
Brüggenjürgen: Es werden ihm ganz konkret vier Fälle von Fehlverhalten zur Last gelegt, also mindestens vierfaches Versagen nach Ansicht der Anwälte in dem Gutachten. Der Papst Emeritus hat selber eine 82-seitige Stellungnahme abgegeben und er räumt durchaus ein, ich sage mal, das, was man ihm auch nachweisen kann, dass er von Sachen gewusst hat, dass er in der einen oder anderen Stelle dabei war. Er sei oft nicht richtig dafür zuständig gewesen, oder er habe es nicht gewusst. Die genaue Lektüre dürfte sehr, sehr spannend sein. Die Anwälte empfehlen die Lektüre allen, weil sie sagen, dass würde dieses Bild von Kirche doch sehr verdeutlichen.
Ein Fall schilderte ein Anwalt als Beispiel: Es geht um einen Priester, der vor einem Mädchen wohl masturbiert hat und dann entsprechend aber vom Papst emeritus nicht als Missbrauchstäter sondern nur als Exibitionist bezeichnet wird, weil er das Mädchen ja nicht berührt habe. Da fehlen mir die Worte, wenn das so stimmt. Also das ist schon sehr erschreckend und die Anwälte haben Papst Benedikt offenbar auch nachgewiesen, dass er entgegen seiner eignen Stellungnahme bei einer Ordinariatssitzung wohl dabei war und dann vieles gewusst hat, was er selber abstreitet. Das dokumentieren aber wohl die Akten – und eine nachgewiesene Lüge wäre für den Papst natürlich ein Desaster. Alles wenig appetitlich und erschütternd, was man da hört.
DOMRADIO.DE: Schauen wir auf den amtierenden Erzbischof von München und Freising, auf Kardinal Marx. Was ist über ihn und sein Verhalten bekannt geworden?
Brüggenjürgen: Es wurde ja bereits im Vorfeld spekuliert, wir erinnern uns: Der amtierende Erzbischof hat seinen Rücktritt bereits Papst Franziskus angeboten, der wurde von Papst Franziskus aber abgelehnt. Jetzt werden ihm konkret zwei Fälle von Fehlverhalten vorgeworfen, es geht wohl um fehlende Meldungen an den Vatikan. Da muss man jetzt mal genauer prüfen. Es gab ja im Vorfeld bereits sehr kritische Stimmen.
Die Gutachter werfen Kardinal Marx vor, er habe den Missbrauch nicht zur Chefsache gemacht. Da waren bei der Pressekonferenz schon kritische Stimmen, auch gegenüber dem Kardinal Marx. Da ist es eigentlich sehr schade, dass der Auftraggeber, das Erzbistum München-Freising, der oberste Auftraggeber, der Erzbischof, Kardinal Marx selber, nicht bei diesem Termin anwesend war. Das Gutachten wurde von seinem Generalvikar und der Verwaltungsleiterin in Empfang genommen. Eigentlich schade, dass der Kardinal selber nicht dabei gewesen ist. Die Betroffenen erwarten ja eigentlich, dass man sie im Blick hat und dass man sich der Sache stellt. Aber der Kardinal will heute Nachtmittag eine Stellungnahme abgeben.
DOMRADIO.DE: Die Kanzlei hat also heute vieles dokumentiert. Hat sie der Kirche denn auch eine Empfehlung gegeben?
Brüggenjürgen: Ja, sie hat zunächst erst mal allen gesagt, man möge das bitte alles sorgfältig lesen, man möge sich selber ein Urteil bilden, es wird alles ins Internet gestellt. Die Kanzlei hat natürlich gesagt, dass es das strukturelle Versagen der Kirche ist, was angepackt werden muss. Ganz besonders haben sie der Kirche ans Herz gelegt, eine unabhängige Ombudsstelle einzurichten, also Räume zu schaffen, in denen Betroffene wirklich Vertrauen finden können. In diesen Räumen dürfe kein Kleriker, kein kirchlicher Angestellter sein, damit diese Betroffenen wirklich diesen Raum als angstfreien Raum erleben können und sich dann öffnen können.
Sie haben auch gesagt, es reicht nicht, die Akten zu studieren. Das war ein deutlicher Seitenhieb Richtung Erzbistum Köln. Es reiche kein Aktenstudium, es müssen Zeugen befragt werden. Und ganz wichtig: Die betroffenen Pfarreien müssen einbezogen werden. In allen Fällen wurden die Pfarreien nur unzureichend oder gar nicht informiert, was dann natürlich in den betroffenen Gemeinden zu viel Spekulationen und zu Irritationen geführt hat und auch zur Gemeindespaltung. Also die Pfarreien selber, die Basis, die oft genau weiß, was los ist, die muss im Blick behalten werden.
DOMRADIO.DE: Das ganze Gutachten konntest Du natürlich noch nicht lesen. Aber jetzt nach der Pressekonferenz, was ist da Deine Bewertung, Deine Zwischenbilanz?
Brüggenjürgen: Wir müssen uns mal den bisherigen Zeitraum vor Augen halten. Im Jahr 2002 sind die ersten Fälle bekannt geworden, dann 2010 die eigenen Richtlinien und dann 2018 das MHG-Gutachten. Wir haben jetzt 2022. Es ist erschreckend, dass Kirche dieses Problem nicht vom Tisch bekommt und die Betroffenen nicht im Blick waren. Bis 2010 waren die Betroffenen überhaupt nicht im Blick, haben die Anwälte gesagt, sondern immer nur der Schutz der Institution, die Heiligkeit der Kirche.
Das ist für mich was, wo ich sage, das darf eigentlich alles nicht mehr wahr sein, zumal wenn es sich teilweise noch bis in die heutige Zeit hinein streckt. Und gleichzeitig ist es für mich jetzt, dringend angesagt, die bekannten systemischen Ursachen Macht, Machtmissbrauch, Männerbünde, all dies Dinge, die wir im Vorfeld ja überall in anderen Gutachten auch schon gehört haben, endlich anzugehen und endlich die Konsequenzen zu ziehen. Es muss auch in kirchlichen Reihen endlich mal jemand die Verantwortung übernehmen. Anders wird man die Glaubwürdigkeit nicht zurückgewinnen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.