DOMRADIO.DE: Als die russische Armee am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist und dieser Angriff eine Zeitenwende für ganz Europa eingeläutet hat, haben Sie umgehend zum täglichen Friedensgebet in den Kölner Dom eingeladen. Nach fast drei Jahren gibt es diese Initiative noch immer, denn noch immer herrscht Krieg in der Ukraine, auch wenn sich gerade mit diplomatischen Verhandlungen etwas zu bewegen scheint. Glauben Sie angesichts des unermesslich großen Leids, das Russland über die Ukraine gebracht hat und das noch lange nicht zu Ende ist, an die Kraft des Gebetes?

Monsignore Robert Kleine (Kölner Dom- und Stadtdechant): Es wäre fatal, wenn wir aufhörten, für den Frieden zu beten. Als Christ glaube ich aus tiefstem Herzen an die Kraft des Gebetes. Wenn wir mit unseren persönlichen Bitten kommen, aber auch für die Menschen in Kriegs- und Krisenregionen weltweit beten, vertraue ich darauf, dass Gott, der das Leid der Menschen in der Ukraine und anderswo kennt, uns hört. Der Herr hat einmal gesagt: Bittet, dann wird euch gegeben. Das ist zwar kein Automatismus, aber das Gebet erinnert gerade auch uns hier in Deutschland daran, dass wir selber etwas tun müssen, damit es Frieden im Kleinen und am Ende auch im Großen wird. Deshalb dürfen wir nicht aufhören, inständig zu beten.
Und was die Dauer des Ukrainekriegs betrifft, muss man immer auch mitbedenken, dass wir leider auch anderswo auf der Welt kriegerische Auseinandersetzungen haben, die gar nicht mehr in unseren Nachrichten auftauchen. Da kann ich doch nicht sagen: Okay, wenn jetzt mein Gebet drei Jahre nicht geholfen hat, höre ich damit auf. In jeder heiligen Messe beten wir um den Frieden, in jedem "Vater Unser" darum, dass das Reich Gottes – ein Reich des Friedens – kommen möge. Wir Menschen haben nun mal keine paradiesischen Zustände – das dürfen wir für das Ende erhoffen – aber wir sollten auch nicht die Hände in den Schoß legen, sondern aktiv am und für den Frieden – im Kleinen – arbeiten. Und wir können die Hände falten, um für Frieden zu beten. Ich bin davon überzeugt, dass das immer auch eine Kraft hat.
DOMRADIO.DE: Lange fand dieses Mittagsgebet, zu dem immer auch das Orgelspiel gehört, am Ambo in der Vierung mit wechselnden theologischen Impulsen statt, so dass Touristen und zufällige Passanten innehalten und mitbeten konnten. Inzwischen ist es in die Marienkapelle umgezogen. Findet es dort denn – abseits der Besucherströme – überhaupt noch Beachtung, oder gibt es – wie bei allem, das selbstverständlich und zur Routine geworden ist – nicht auch einen Abnutzungseffekt?
Kleine: Wir haben 2022 das ohnehin schon seit vielen Jahren bestehende Mittagsgebet nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine umbenannt und zu einem Friedensgebet konkretisiert. Als ich 2012 an den Dom kam, wurde er um die Mittagszeit immer für die Teilnahme am Mittagsgebet geräumt. Meine Idee war dann – so habe ich das auch in anderen Kirchen erlebt – dass es einen geistlichen Impuls auch im laufenden Betrieb geben sollte, während Touristen und Gläubige im Dom verweilen und sie ihre Besichtigung fortsetzen. Wir haben immer wenige Minuten vorher dazu explizit eingeladen, so dass das Mittagsgebet in diesem Szenario zum Friedensgebet wurde.
Nach Corona haben wir dann verstärkt die Erfahrung gemacht, dass die Besucher alles fotografieren und filmen – auch die Menschen am Ambo, was von den Beteiligten zunehmend als unangenehm empfunden wurde. Manchmal gab es regelrecht einen Pulk an Fotografen, während gebetet wurde. Das führte zu der Überlegung, dass wir den Dom zwar weiterhin offen halten wollen, aber eben auch für dieses Gebet eine intimere Atmosphäre schaffen müssen. Zudem gab es ein akustisches Problem, so dass ein Wechselgebet wegen der Größe des Domes kaum möglich war. In der Marienkapelle ist es nun viel einfacher, gemeinsam ein "Vater Unser" zu sprechen. Da hört man einander, hat Blickkontakt und bildet eine Gebetsgemeinschaft. Von hier aus wird das Gebet dann über Lautsprecher in den Dom übertragen. Es ist ja nie eine große Menge, die sich einfindet, manche aber kommen regelmäßig, und so ist man bei diesem Friedensgebet nie allein. Und das Ganze wird auch übers Domradio gesendet, so dass sich am Tag dann doch mehrere tausend Beter von diesen immer individuell ausgewählten Texten und Fürbitten ansprechen lassen.
Wenn ich im Dom bin, jemanden beten sehe und dazu eine Stimme höre, fokussiert das natürlich. Da merkt man: Hier ist jetzt etwas los. Sonst kommt die Stimme quasi aus dem "Off". Aber kurz vor Beginn des Mittagsgebets geht immer jemand an den Ambo, begrüßt – meist zweisprachig – und lädt mit einer Geste ein, zum Gebet in die Marienkapelle zu kommen. Und da setzen sich dann immer einige in Bewegung und machen sich regelrecht auf den Weg. Andere bleiben still im Langhaus sitzen. Da wir sehr viele Touristen haben, das Mittagsgebet aber nicht international ist, verstehen auch nicht immer alle, um was es gerade geht. Aber ich bin mir sicher, dass die Menschen dennoch atmosphärisch etwas mitnehmen – und wenn es nur das Orgelspiel ist, das aufhorchen lässt und in seiner Eindringlichkeit immer in eine geistliche Stimmung versetzt.

DOMRADIO.DE: Sie sprechen es an: Die Musik ist ganz wesentlicher Teil des Friedensgebets. Ihr Vorteil: Sie ist universal und spricht alle gleichermaßen an. Wie reagieren die Menschen im Dom? Welche Beobachtungen machen Sie?
Kleine: Die Menschen lassen sich berühren. Und trotzdem muss man wissen, dass von den Besucherinnen und Besuchern im Dom die meisten kein Deutsch verstehen, vielleicht nicht einmal Englisch. Dennoch nehmen sie Platz, lauschen der Musik und merken: Hier in diesem Raum wird jetzt etwas gefeiert. Wenn ich dann in der Marienkapelle bin, habe ich nochmals einen ganz anderen Kontakt zu den Mitbetenden. Man schaut sich an, steht gemeinsam zum Vater Unser auf, wobei ich immer auch dazu auffordere, dieses Gebet in der eigenen Muttersprache zu formulieren. Da bekomme ich schon mit, dass die Leute intensiv dabei sind. Wer sich auf die Einladung in die Marienkapelle einlässt, der will auch wirklich zu diesem Friedensgebet; der ist nicht rein zufällig da.
DOMRADIO.DE: Das Domradio überträgt dieses Friedensgebet in alle Welt. Wie groß ist die Resonanz?
Kleine: Es gibt eine feste Struktur in diesem etwa 20-minütigen Gebet – an drei Stellen ein Orgelspiel im Wechsel mit Texten. Ansonsten aber ist jedem Vorbetenden aus dem rund zehnköpfigen Pool an Männern und Frauen frei gestellt, ob er Bibelstellen, Psalmworte oder aktuelle Geschehnisse wählt, auf die er Bezug nimmt. Die Beiträge der Theologinnen und Theologen sind sehr unterschiedlich, so dass es immer eine wohltuende Abwechslung gibt und spannend bleibt, wie jeder dieses Friedensgebet inhaltlich gestaltet. Dadurch, dass es mal eigene Gedanken sind oder ein Zitat, das jemand irgendwo gefunden hat, kommt es auch vor, dass man im Anschluss nach dem einen oder anderen Text gefragt wird, weil er besonders ansprechend war, einen Punkt getroffen hat oder zu Herzen gegangen ist.

Gerade auch über die Live-Übertragung im Domradio erreichen uns immer wieder Anfragen oder Kommentare von Menschen, die uns in der Tat aus der ganzen Welt folgen. Sehr selten kann es auch schon mal passieren, dass wir einen Termin nicht besetzen können. Und dann kommen umgehend Rückmeldungen, dass es vermisst wurde. Das werte ich als gutes Zeichen für eine große Akzeptanz dieses Formats.
DOMRADIO.DE: Gebetsinitiativen sind oft ein Ventil für eigene Betroffenheit. Das sieht man meist bei Terroranschlägen oder Attentaten wie zuletzt in Aschaffenburg, Magdeburg oder Solingen. Dann brauchen Menschen einen Ort kollektiven Trauerns, Innehaltens und auch Betens. Erst recht bei einem Krieg. Dann sind selbst Ungläubige mitunter dankbar für religiöse Rituale. Wie sehr steht gerade die Kirche dann in der Verantwortung?
Kleine: Als Christinnen und Christen haben wir den Auftrag, auf das hinzuweisen, was uns trägt. Das heißt, ich habe bei allem, was geschieht, eine Hoffnung – das ist mein Glaube – dass da jemand ist, der größer ist als alles Leid. Das hilft aber im Moment nur bedingt, ich muss auch Trauer zulassen und diesen Gefühlen einen Raum geben. Das zeigt sich dann, indem wir Kerzen entzünden – was ja ein Bild dafür ist, dass wir in der Dunkelheit unseres Lebens, in allem Leid, ein helles Licht brauchen, das uns tröstet, zum Beispiel im Gedenken an die Opfer oder einen persönlich erlittenen Verlust. Gerade in unserem Dom wird eine solche Gelegenheit, still und im Gebet ganz persönlich die eigene Betroffenheit auszudrücken, immer wieder gesucht.

Darüber hinaus laden wir ganz gezielt zu Gottesdiensten ein – gerade auch wenn ein großes Unglück geschehen ist, wenn ich da an terroristische Anschläge oder den Absturz der Germanwings-Maschine 2015 mit der großen Zahl an Todesopfern denke. Zu dem ökumenischen Trauergottesdienst damals im Kölner Dom kamen viele Menschen – auch solche, die keinen christlichen Bezug hatten. Und dann ist es gut, wenn wir als Kirche Rituale und eine Liturgie haben, in die man sich hineinfallen lassen kann, auch wenn man selbst nicht gläubig ist.
Schon manches Mal habe ich bei Trauergottesdiensten Menschen erlebt, die sich bedanken und sagen: Ich glaube zwar nicht an Gott, aber das hat jetzt gut getan und mir Halt gegeben. Ich mache die Erfahrung, dass wir in solchen Situationen als Kirche gefragt sind, weil wir am Ende eine Hoffnung haben und ich sagen kann, dass jedes Leben eine Zukunft bei Gott hat, in seiner Liebe geborgen ist, die wir den Himmel nennen – auch wenn dieses Leben durch einen Terrorakt ausgelöscht wurde. Aber mit diesem Trost darf ich nicht zu früh kommen. Ich muss auch das Schweigen, das Keine-Worte-Finden und das stille Trauern aushalten.
Insofern stehen wir ganz klar in der Verantwortung, dass wir Räume, auch Zeiträume öffnen, aber darüber hinaus Veranstaltungen an Kirchorten anbieten, wo Menschen zusammenkommen können, um gemeinsam zu trauern. Was uns aber dann nochmals von einem staatlichen Akt, bei dem es genauso um Erschütterung und Betroffenheit geht, unterscheidet, ist, dass wir eine Botschaft haben, die am Ende Hoffnung schenken kann. Das fehlt aus gutem Grund beim staatlichen Trauern, eröffnet im christlichen Glauben aber einen Horizont auf Zukunft hin.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.