DOMRADIO.DE: Herr Prälat Bachner, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Goldenen Priesterjubiläum, das Sie an diesem Sonntag mit einer heiligen Messe im Kölner Dom und vielen Weggefährten feiern! Was für ein Gefühl ist das, in diesen Zeiten des kirchlichen Wandels auf 50 Jahre Priestersein zurückzuschauen?
Prälat Gerd Bachner (Kölner Dompropst emeritus): Auch ganz unabhängig von diesem Fest – aber im Moment natürlich noch einmal intensiver als sonst – bewegt mich eigentlich immer, dass ich mein Leben mit Gottes Hilfe an vielen unterschiedlichen Stellen gestalten durfte. Wenn ich die letzten 50 Jahre einmal Revue passieren lasse, erfüllt mich das mit großer Freude und macht mich zutiefst dankbar. Erst recht, wenn ich bedenke, dass von meinem ehemaligen Weihekurs bereits elf Mitbrüder verstorben sind, vier ihren Dienst aufgegeben haben und wir nun nur noch zu dritt von ehemals 18 übrig sind. Außerdem geht mir durch den Kopf, dass ich mir nie eine Aufgabe ausgesucht habe, sondern stets Anfragen auf mich zukamen und ich mich mit mancher zunächst auch eher schwer getan habe. Als Düsseldorfer wollte ich zum Beispiel nicht nach Vingst und auch nicht an die Hochschulgemeinde in Wuppertal, was mir damals wie eine Verbannung nach Sibirien vorkam. Also, das war dann im besten Sinne auch eine Zumutung. Aber im Nachhinein habe ich eigentlich überall eine große Zufriedenheit und letztlich auch Erfüllung gefunden, so dass ich dann von da gar nicht mehr weg wollte.
Dankbar macht mich auch, dass ich nie in eine echte Existenzkrise geraten bin, keinen Tag meines priesterlichen Lebens bereue. Auch heute in der weitaus schwierigeren Situation der Kirche, in der die Herausforderungen für einen Priester enorm gestiegen sind, man sich permanent Gedanken um das richtige Maß von Nähe und Distanz – zum Beispiel angesichts der Missbrauchsthematik – machen muss, würde ich jederzeit wieder mein "Adsum" am Altar sprechen. Nach wie vor erlebe ich bei vielen Menschen eine Sehnsucht nach Glauben und nach Gott, auch wenn sie sich manchmal über sein Bodenpersonal gehörig ärgern. Und dieses Suchen trifft ja den Kern meiner Berufung. Auch heute noch im Ruhestand spüre ich eine große Bereitschaft zum Dialog, wenn man sich nur auf die Menschen hin öffnet. Die Möglichkeiten, seelsorglich zu wirken, sind daher m. E. heute noch sehr viel größer als früher. Deshalb sehe ich in der gegenwärtigen Vertrauenskrise vor allem auch die Chancen.
DOMRADIO.DE: Sie stecken also nicht wie manche Ihrer Mitbrüder den Kopf in den Sand und beklagen resigniert den Ist-Zustand?
Bachner: Natürlich würde auch ich mir manches anders wünschen, aber mein Lebensthema war und ist immer der Aufbruch. Das fing schon mit meiner Ankunft im Rheinland an, wo ich aufgewachsen bin, obwohl ich in Sachsen geboren bin. Später gab es den geistlichen Aufbruch mit dem Beginn meines Theologiestudiums, bei dem sich deutlich die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seinem Aggiornamento zeigten. Nach meiner Weihe habe ich dann versucht, diesen Aufbruch selbst zu leben, indem ich Menschen immer auch einen Wandel ermöglichen wollte. Zuletzt gerade auch noch in meiner Funktion als Dompropst, wenn ich da nur an manche Neuerung wie zum Beispiel die Einführung der Domschweizerinnen denke. Deshalb ist auch der aktuelle Aufbruch der Kirche nichts, was mich vorrangig beunruhigt, weil Veränderung notwendig ist. Nur dass so viele Menschen gerade an ihrer Kirche verzweifeln, macht mich tieftraurig und ist natürlich besorgniserregend. Allerdings sehe ich auch hier noch Bewegung, wenn man offen auf die Menschen zugeht und ihnen Mut macht, in der Kirche zu bleiben. Das bedeutet natürlich auch, dass man nicht nur als Verteidiger der Kirche auftritt, sondern einräumt, dass Fehler gemacht wurden.
DOMRADIO.DE: Sie haben als Kaplan in Vingst und Jugendseelsorger in Deutz begonnen, später wurden Sie unter anderem Direktor des Collegium Albertinum in Bonn, dann für zwölf Jahre Regens des Kölner Priesterseminars, ab 2001 Leiter der Hauptabteilung Schule/Hochschule im Erzbistum und schließlich von 2015 bis 2020 Dompropst. Eigentlich hatten Sie fast Ihr ganzes Priesterleben mit jungen Menschen zu tun. Wie sehr schmerzt es Sie, dass ausgerechnet diese Generation, auf der alle Zukunftshoffnungen ruhen, mit Kirche nichts mehr zu tun haben will oder zumindest doch sehr mit der Institution und ihrem mangelnden Willen zu Reformen hadert?
Bachner: Der Umgang mit jungen Leuten hat mich geprägt. Jugendliche fragen alles, sie kennen kein Tabu. Und sie erwarten Antworten, die Hand und Fuß haben. Eben verständliche, überzeugende Antworten, mit denen man Brücken zu ihnen baut. Denen kann man nichts vom Pferd erzählen. Und natürlich ist diese Generation die Zukunft der Kirche. Daher hoffe ich sehr, dass die katholischen Schulen in unserem Erzbistum bestehen bleiben, weil wir an keiner Stelle mit so vielen jungen Menschen zusammenkommen und ihnen Begleiter im Leben und im Glauben sein können. Und das – wohlgemerkt – mit einem sehr geringen finanziellen Beitrag. Hier haben wir die unglaubliche Chance, jungen Leuten den Glauben nahezubringen. Als Verwaltungsratsvorsitzender der "katho", der Katholischen Hochschule Nordrhein Westfalen, habe ich im Gespräch mit Studenten immer erlebt, wie wichtig es ist, sich diesem Bildungsauftrag zu stellen. Wenn ich heute mitunter von meinen Erfahrungen als Kaplan in der Jugendzentrumspfarrei St. Theodor in Vingst berichte, wo in den 70er Jahren am Sonntag hunderte Jugendliche in die Messe kamen, ist das, als würde man vom Mars erzählen. Diese Zeiten sind natürlich vorbei, aber der ureigentliche Auftrag bleibt ja bestehen.
Ein anderes Beispiel: Wir haben in den vier Domchören allein etwa 500 junge Sängerinnen und Sänger zwischen zehn und 30 Jahren. Davon sind sicher nicht alle engagierte Christen. Aber über ihren liturgischen Dienst bekommen sie etwas mit. Von daher ist das ein Weg, Menschen in Kontakt mit Gott, Glauben und Kirche zu bringen und ihnen hier Türen zu öffnen. Früher war vielleicht der Kaplan in der Gemeinde ein Vorbild und damit das Bindeglied zu den Jugendlichen. Wenn aber heute dieser junge Seelsorger fehlt, läuft es über andere Formen der Beziehungsarbeit, denen dafür eine Schlüsselfunktion zukommt. Religiöse Bindungen können auch in der Begegnung mit Mitschülern oder Freundinnen und Freunden entstehen, die sich zu ihrem Glauben bekennen und davon erzählen.
Ein gutes, wenn auch unkonventionelles Beispiel dafür ist vielleicht die Aktion "Knocking on heaven’s door" mit Michael Kelly, der 2020 im nächtlichen Dom und mitten in der Pandemie ein Konzert gegeben hat, das bis heute 1,9 Mio Aufrufe im Internet hat. Dieser Sänger spricht in Talk-Shows immer wieder offen über seinen Glauben. Auch wenn Kellys Domauftritt damals in meiner Generation eher kritisch gesehen wurde, ist so etwas für mich dennoch ein legitimer Weg, junge Menschen für den Glauben anzusprechen und zu interessieren.
DOMRADIO.DE: Gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit als Dompropst sind Sie – bekannt für Ihre Leidenschaft, hohe Gipfel zu erklimmen – auf die äußerste Spitze der Kreuzblume des Domes in 157 Metern Höhe geklettert. Daran erinnert heute eine kleine rote Figur mit Helm am Domgitter auf der Südseite des Roncalliplatzes. Wie ist das, wenn man die Welt so von oben betrachtet und damit dem Himmel ein gutes Stück näher ist? Relativiert das nicht den eigenen Blick auf manches?
Bachner: In der Tat, auf diesem "Gipfel" steht man noch höher als der Blitzableiter, und es war damals ein absolutes Privileg, gemeinsam mit dem Dombaumeister diesen höchsten Punkt zu erreichen. Vielleicht stellt sich ein vergleichbarer Effekt ein, wenn Astronauten von der ISS auf die Erde schauen und von diesem Erlebnis derart überwältigt berichten. Man hat von der Domspitze einen prächtigen Blick auf die Stadt und die Menschen mit ihren unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Lebensentwürfen, die da unten als Fragende, Suchende, um richtige Antworten Ringende und vielleicht ja auch als Glaubende unterwegs sind. Jedenfalls weitet dieses "Gipfelerlebnis" ungemein die Perspektive – gerade auch hinsichtlich der Menschen, denen ich in dieser Stadt immer wieder begegnet bin und die mir in meiner Zeit als Propst ans Herz gewachsen sind.
Dabei meine ich, dass wir uns oft zu sehr auf eigene Probleme fokussieren, das große Ganze aus dem Blick verlieren, statt vom nahen Nächsten auch eine Brücke zum fernen Nächsten zu schlagen. Wir erleben gerade schmerzlich, dass die Welt auf dem Kopf steht, weil Einzelne ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen wollen. Dabei kann sie nur überleben, wenn alle an einem Strang ziehen und zusammenhalten. Kein Land kann die globalen Krisen dieser Welt – sei es beim Klima, der mangelnden Ressource Wasser oder dem Hunger in Afrika – alleine lösen. Wir müssen also auch als Weltkirche zusammenhalten, denn bei allen Themen geht es nicht um die deutsche Kirche, die ja schließlich keine Nationalkirche ist, auch wenn wir unsere deutschen Themen – zum Beispiel die Bedeutung der Frau in der Kirche – in die Weltkirche hineintragen müssen.
Bei allen wirklich weltbewegenden Debatten geht es darum, Weitsicht zu demonstrieren und angstfrei Türen zu öffnen. Wir dürfen nicht immer nur bei uns bleiben, sondern müssen den Blick gemeinsam mit den vielen Menschen weiten, die uns wach halten und in den Gemeinden großes Engagement beweisen. Außerdem leben wir im Zeitalter der größten Christenverfolgung, wenn ich da nur an China denke. Alle diese Probleme gehen einem durch den Kopf, wenn man da oben steht. Und das macht bei einem Blick vom Dom hinunter auf diese Stadt und die einem anvertrauten Menschen schon demütig und darf als Anfrage an uns Kirche nicht ausgeblendet werden.
DOMRADIO.DE: Als Dompropst haben Sie nochmals ganz neu Kölns Wahrzeichen, das für Sie zuallererst immer Gotteshaus ist, in die Schlagzeilen gebracht: 2016 mit der multisensorischen Installation und robotergesteuerten Lasershow "SilentMOD" und 2018 mit der Bewegtbild-Illumination "Dona nobis pacem"; zwei Veranstaltungen, die den Dom sprichwörtlich in ein anderes Licht gerückt haben und große Erfolge waren. Zuletzt haben Sie auch noch einen Markenkernprozess auf den Weg gebracht. Was ist jenseits dieser äußerlich-spektakulären Errungenschaften, die zum Teil auch international Beachtung fanden, Ihr ganz persönlich Highlight in 50 Jahren als Priester gewesen?
Bachner: In den fünf Jahren als Dompropst habe ich immer auch im übertragenen Sinne versucht, die Kirchentüren zu öffnen, zur Begegnung einzuladen. Und es war für mich immer ein bewegender Moment, wenn Menschen durch eine solche Tür dann wirklich auch gegangen sind und das für sie zu einer Berührung mit Gott geführt hat. Wer angstfrei ist, muss auch seine Türen nicht dicht machen, bin ich überzeugt. Und umgekehrt, wer etwas wagt und sich öffnet, erlebt, dass Gott ihm Halt gibt. Ich bedaure, dass wir in der Kirche manchmal zuviel Angst haben, uns zu öffnen, weil wir meinen, dass eine zu große Öffnung die Botschaft Jesu verwässert. Dabei mache ich genau die gegenteilige Erfahrung: dass Menschen, die ihren Glauben wahrhaftig leben, sehr gefragt sind und andere mit ihrer Überzeugung anstecken. Jesus Christus selbst hat immer wieder gesagt: Habt keine Furcht!
DOMRADIO.DE: Ihnen war immer wichtig, den Dom als einen Raum des Gebetes und der Gotteserfahrung zu vermitteln – zum Beispiel auch mit dem Angebot "Abendliche Glaubenswege". Was bedeutet Ihnen persönlich der Dom?
Bachner: Der Dom ist ohne die Menschen in der Stadt nicht zu verstehen – und umgekehrt: Die Menschen lieben ihren Dom und definieren sich auch ein Stück weit über ihn. Das war im Krieg so, als sie die vielen Feuer der Brandbomben gelöscht haben, oder auch jetzt, wenn sie im Zentraldombauverein den Erhalt dieser Kathedrale mit ihren Spenden unterstützen. Für mich persönlich ist der Kölner Dom mit den Heiligen Drei Königen als Prototypen christlichen Lebens, die nach Gott suchen und sich aufmachen, ihn zu finden, ein heiliger Ort. Das Spirituelle war für mich immer das Eigentliche – neben allem Management, das mir sicher auch liegt. Mit Studenten auf Berghöhen Gottesdienst zu feiern, geistliche Wochenenden oder Fahrten wie nach Israel durchzuführen – alle diese Schritte dienten immer nur dazu, mit Gott in Berührung zu kommen und diese Berührung, wenn es der Einzelne denn zugelassen hat, zu vertiefen. Ich bin davon überzeugt, unsere Verkündigung muss sich am Weg Jesu orientieren, der jedem aber immer auch die Freiheit lässt zu gehen. Zwang und Liebe schließen sich nun mal gegenseitig aus.
Auch als Leiter des Collegium Albertinum oder später im Priesterseminar habe ich deshalb nie Druck ausgeübt. Mein Ziel war vielmehr, dass jeder seine Berufung entdeckt und lebt – sei es nun als Priester oder in einer Partnerschaft. Entscheidend ist doch, dass Gott unser Kompass ist und wir seine Intention – zum Beispiel im Gebet – erkennen. Daher habe ich über mein Goldenes Priesterjubiläum auch das Johannes-Wort "Was er euch sagt, das tut" gestellt. Wie gesagt, entscheidend ist doch immer zu erkennen, was Gott mit einem vorhat. Dabei ist wichtig, nicht liegen zu bleiben, wenn es auch mal einen Rückschlag gibt und eine Berufung scheitert, sondern aufzustehen, sich die Hand Gottes reichen zu lassen und einen anderen Weg mit ihm weiterzugehen. Der Gratmesser muss immer sein, ob etwas von Gott gewollt, getragen und mit ihm gelebt wird. Und das – ich wiederhole nochmals – nicht mit Angst, sondern einer großen Weite im Herzen.
DOMRADIO:DE: Das eine ist das Gebäude aus Stein, das andere der lebendige Organismus Kirche. Wie schauen Sie gerade auf dieses Gebilde, das heftigen Schwankungen und zusehends auch Anfeindungen ausgesetzt ist?
Bachner: Die Menschen suchen mehr nach Gott, als wir meinen – bei aller Kritik, die sie üben. Und sie sind zutiefst verunsichert in der derzeitigen Krise, die ja nicht nur eine Missbrauchskrise, sondern auch eine Vertrauens- und Kommunikationskrise ist. Sie erwarten von uns Kirchenvertretern, dass wir uns nicht verstecken, sondern die Begegnung suchen, uns stellen und Position beziehen. Sie wünschen sich eine authentische und transparente Kirche und fordern zu Recht Veränderungen. Die Kirche war immer eine "ecclesia semper reformanda", wie es im Zweiten Vaticanum heißt, als Rufe wie "Reißt die Fenster auf" und "Lasst frischen Wind herein" laut wurden. Es geht um Dialog, Zuhören und Reden. Wir sind schließlich kein Verein. Es geht um die Kirche Gottes. Daher noch einmal: "Was er euch sagt, das tut!" Trotzdem haben wir die Berechtigung zur Veränderung aber nur, wenn diese der Intention Gottes entspricht. Und diese müssen wir im Dialog mit ihm, im persönlichen Zwiegespräch, herausfinden. Keine Mehrheit kann Glaubenswahrheiten entscheiden. Darum aber geht es: um die Wahrheit. Mit anderen Worten: um eine Reform im Geiste Jesu.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.