Christel Neudeck und der 17-jährige Abdullah Hamidi sitzen am Esstisch im Wohnzimmer. Vor ihnen liegt ein Tablet. Christel Neudeck liest die Frage auf dem Bildschirm vor: "Um wie viel Prozent erhöht sich bei Tempo 160 im Allgemeinen der Kraftstoffverbrauch?" Sie selbst muss kurz nachdenken. "Um 35 Prozent", antwortet Abdullah Hamidi dagegen prompt und berührt mit dem Finger die für ihn richtige Lösung. Das Programm sagt: "Richtig!" Abdullah macht gerade seinen Führerschein und hat schon fleißig mit dem Fragenkatalog gelernt. "Ich glaube, du machst weniger Fehler als ich", stellt Christel Neudeck fest.
"Wir haben Platz"
Christel und ihr Mann Rupert Neudeck haben vor eineinhalb Jahren den minderjährigen Abdullah Hamidi, der aus Afghanistan über die Balkanroute geflüchtet ist, aufgenommen. Weltweit bekannt wurde Rupert Neudeck in den 70ern durch die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge im Chinesischen Meer mit dem Rettungsschiff Cap Anamur. Das Paar, das sich schon seit vielen Jahrzehnten für Flüchtlinge einsetzt, wollte nun auch auf diese Weise helfen. "Die eigenen Kinder sind aus dem Haus, wir haben Platz, es bietet sich an", erklärt Christel Neudeck. Im vergangenen Jahr stirbt Rupert Neudeck im Alter von 77 Jahren. Seitdem leben Christel Neudeck und Abdullah Hamidi allein im Reihenhaus in Troisdorf bei Bonn.
Abdullah Hamidi ist einer von rund 60.000 Minderjährigen aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Irak oder Eritrea, die unbegleitet, also ohne Sorgeberechtigte, in Deutschland leben. Nach ihrer Ankunft kommen die Jugendlichen zunächst in die Obhut eines städtischen Jugendamts und werden dann verteilt.
Das erste Geschenk
Von einer völlig überfüllten Turnhalle wurde Hamidi zu dem Paar gebracht. Neudecks erhalten die Vormundschaft, da das Familiengericht in Hamidis Fall die Adresse der Eltern nicht ausfindig machen konnte. Rupert Neudeck beschreibt in seinem Buch "In uns allen steckt ein Flüchtling: Ein Vermächtnis": "Meine Frau gab Abdullah einen Koran auf Arabisch und Deutsch, worüber er sich sehr freute." Abdullah Hamidi, der bislang gut Englisch kann, lernt in einem Kurs die deutsche Sprache.
Neudecks unterstützen den jungen Mann, wo sie können. Sie schenken ihm das Buch "Der kleine Prinz" auf Deutsch. "Jeden Abend lasen wir. So durfte er bald in die reguläre zehnte Klasse gehen. Wir alle waren glücklich.", schreibt Rupert in seinem Buch.
Trost nach dem Tod
Aber auch Abdullah Hamidi wird zur Unterstützung. Als nach wenigen Monaten Rupert Neudeck erkrankt und stirbt, geht es Christel Neudeck nicht gut. "Er war mir in der Zeit eine große Hilfe. Das weiß er auch", sagt sie. Er habe sie diszipliniert. "Ich konnte nicht einfach sagen, jetzt ist mir alles egal, ich bleibe im Bett liegen", erinnert sie sich.
Sie behalten ihre Rituale bei. Auch wenn der junge Afghane viel unterwegs ist und zum Sport, zur Schule und zur Fahrschule geht - abends setzen sie sich immer zusammen, sprechen über den Tag. "Es ist mir wichtig, zu wissen, wie es ihm geht", sagt Christel Neudeck.
Belastende Bilder
Manchmal zeigt er ihr Videos aus der Heimat; Bilder von Anschlägen, die er in den sozialen Medien gesehen hat. Die Orte kennt er. Er macht sich große Sorgen um die Familie, die er dort gelassen hat.
Aber sie diskutieren auch miteinander. "Wir mögen uns so sehr, dass wir auch richtig streiten können", erklärt die 74-Jährige. Denn die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein: "Er ist jung, ich bin alt, er ist Muslim, ich bin Christin", sagt sie.
An die eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen erinnert
Trotz aller Unterschiedlichkeit: Manchmal fühlt sich Christel Neudeck auch an ihre eigene Kindheit erinnert, in der Frauen meist zu Hause und nicht berufstätig waren - ähnlich wie es in Hamidis alter Heimat Afghanistan auch jetzt noch üblich ist. "Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir auch anders gelebt haben", sagt sie. Sie sprechen auch über die Bibel und den Koran. Im Koran erkenne sie vieles wider, was sie aus dem Alten Testament kenne. Nur die Namen seien anders.
Aber sie diskutieren auch über die Inhalte, wie zum Beispiel über die "Jungfrauengeburt". "Wenn ich sage: Das ist eine falsche Übersetzung. Das heißt 'junge Frau' und nicht 'Jungfrau', dann sagt er nichts, aber er schaut komisch." Aber auch hier muss sie an ihre eigenen Vorstellungen vor einigen Jahrzehnten denken. "Das war, bis ich 50 Jahre alt war, auch so. Das war Häresie, das zu bezweifeln."
Zusammenleben als Bereicherung
Beide empfinden das Zusammenleben als große Bereicherung. So ist Hamidi, der in Afghanistan lieber ferngesehen hat, mittlerweile zur Leseratte geworden. "Hier stehen überall Bücher", erklärt er und zeigt auf das gut gefüllte Regal im Wohnzimmer. Da sei er fast nicht drum herum gekommen, zur Literatur zu greifen. Im Gegenzug kocht der junge Mann ab und zu für Christel Neudeck, die behauptet, er könne das sogar besser als sie.
Er fühle sich sehr wohl, sagt Hamidi. Seit dem ersten Tag, als sie ihm den Schlüssel in die Hand gegeben hat, fühle er sich willkommen und verspüre ein großes Vertrauen. "Ich vertraue ihm, wie ich meinen eigenen Kindern vertraue", erklärt Christel Neudeck ganz selbstverständlich. "Ich bin auch stolz auf ihn." Ihre Mühen haben sich gelohnt: Denn Abdullah Hamidi fängt im August eine Ausbildung an. "Er hat es geschafft. Und das vielleicht auch durch meine Hilfe, weil ich ihn ab und zu getreten habe."
Dieses Porträt ist Teil der domradio.de-Themenwoche "Neue Nachbarn: Wie Integration gelingt". Weitere Geschichten und Informationen finden Sie hier.