Christel Hock kennt sie alle auswendig – die Strophen der bekanntesten Karnevalshits. Hinter ihrer Maske und unter einem kecken Hütchen summt die 86-Jährige sie textsicher mit und wippt dazu fröhlich mit dem Fuß. "Karneval und Kölle – das gehört doch zusammen, auch wenn in diesem Jahr alles abgesagt ist. Und bei einem Gottesdienst op kölsch bin ich dem lieve Jott noch jet näher", lacht die Seniorin fröhlich. Sie strahlt und schätzt sich glücklich, zu den 120 Besuchern zu zählen, die am Rosenmontag in Kölns zweitgrößter Kirche bei diesem Zuhörgottesdienst live mit dabei sein können und rechtzeitig ein Ticket für die Teilnahme ergattert haben.
"Ich bin ne echte Kölsche: im Severinsklösterchen geboren und seit 51 Jahren wohnhaft im Agnes-Viertel. Auf die Sonntagsmesse um 11.15 Uhr habe ich so was wie ein Abo. Das ist meine Messe – da hab’ ich immer einen Platz. Was ganz automatisch auch für einen Feiertag wie heute gilt." Die alte Dame ist sich absolut sicher. Zielstrebig steuert sie daher auch auf die zweite Reihe zu. "Immer weit nach vorne", ihre Devise, "sonst kann ich nichts sehen. Und verpassen will ich nichts."
Tünnes und Schäl als Leihgabe aus dem Karnevalsmuseum
In der Tat gibt es an diesem Vormittag ab 11.11 Uhr unter dem Motto "Mir klääve am Lääve" vor und im Altarraum von St. Agnes viel Jeckes zu sehen und zu hören. Ein besonderer Hingucker: Rechts und links vom Altar thronen überlebensgroß als Leihgabe aus dem Kölner Karnevalsmuseum Tünnes und Schäl. Denn das Team um Pastoralreferent Peter Otten hat sich für den historischen Rosenmontag in Pandemie-Zeiten, an dem sonst weit und breit nichts stattfindet – besser: coronabedingt nichts stattfinden darf – etwas ganz Besonderes ausgedacht und dazu viel lokale Prominenz mit ins Boot geholt: allen voran Bandmitglied Stephan Brings, den Kölner Musiker Stefan Knittler, Georg Hinz, Gründer von "Loss mer singe", sowie den Kabarettisten Jürgen Becker, den Otten in diesem Gottesdienst für die "Predigt" – so nennt er das tatsächlich – vorgesehen hat. Und zu guter Letzt gibt es auch noch ein Livestreaming für alle zwangsläufig Daheimgebliebenen, die an der liturgischen Feier vom Sofa aus teilnehmen können und, so die herzliche Einladung der Veranstalter zu Beginn, nach besten Kräften in die vielen Songs mit einsteigen sollen.
"In diesem verflixten Pandemie-Jahr brauchen wir Trost in der Krise und Gemeinschaft trotz Abstands", erklärt Otten zu seiner Idee. "Die Vorstellung, den diesjährigen Rosenmontag als stillen Feiertag zu begehen, war einfach schrecklich. Also haben wir überlegt, in dieser außergewöhnlichen Zeit einmal die melancholisch-tröstende Seite des Fastelovends herauszustellen. Denn der Karneval ist ja auch das: Er ist wie ein Gruß aus der Küche des Himmels. Ein Vorgeschmack auf die Herrlichkeit, die Ewigkeit oder auch nur auf das profane Glück, das am liebsten niemals enden möge. Ein Rausch ohne Reue." Und da der Kölner nicht so gerne abstrakt über "den Himmel" spreche, probiere er ihn lieber aus. "Das ist für mich Karneval", so der Theologe. Was im Übrigen der eigens für 2021 geschriebene Brings-Song "Mir singe Alaaf, denn süns sin mir verlore" auf den Punkt bringe. Gerade die kölsche Musik, findet Otten, sei ein "riesiger Trost" in der gegenwärtigen Krise. "Sie erzählt von der Hoffnung, beschwört den Zusammenhalt und ändert den Blick: Nicht Dunkelheit und Resignation haben das letzte Wort, sondern Übermut, Humor und Optimismus. Eben: Mir klääve am Lääve."
Fürbitten für alle, denen nicht nach Feiern zumute ist
"Normalerweise stünden wir jetzt am Rosenmontagszoch, würden fiere, danze, laache und bütze - mit Blotwurscht und Kölsch in der Hand, und die Kirchen wären geschlossen", begrüßt Innenstadtpfarrer Dominik Meiering die Gottesdienstbesucher, die in dem weiten Kirchenraum trotz ihrer originellen Kostümen, die wie lustige bunte Farbtupfer wirken, ein wenig verloren aussehen und wegen der großen Sicherheitsabstände auch nicht ansatzweise der Versuchung erliegen, sich bei den vielen "kölsche Tön" schunkelnd in die Arme zu fallen. "Doch nichts ist eben gerade normal", sagt der Seelsorger, "und so schenkt uns Gott eine Zeit, in der wir melancholisch und traurig sein dürfen, aber auch Gelassenheit und Freude spüren. Denn am Rosenmontag wird uns klar, was wir alles vermissen, und wir merken, wie sehr wir den Übermut brauchen. Daher wollen wir in dieser Stunde unsere Traurigkeit und unser Leid, aber auch unsere Hoffnung und Zuversicht vor Gott bringen." Allen Anwesenden macht Meiering Mut: "De leeve Jott lässt uns nicht im Riss."
Töne in Moll – gleich im doppelten Wortsinn – überwiegen dann auch in dieser liturgischen Andacht, die nachdenklich stimmt und in jedem Fall etwas fürs Gemüt – und nicht allein das kölsche – ist. Die Architektur ist für die vielen Übertragungskameras lichttechnisch entsprechend in Szene gesetzt, und so spricht genau diese ambivalente Mischung aus Melancholie und Heiterkeit, die sich im Gesamtatmosphärischen widerspiegelt, vielen aus der Seele. Auch und gerade weil in den von Pastoralreferent Otten verlesenen Fürbitten, die als SMS oder per Whatsapp an die Gemeinde gesendet werden konnten, alle die mit einbezogen und in die Mitte der Feier geholt werden, denen in der Corona-Krise nicht nach Lachen und Feiern zumute ist, die um ihre Existenz bangen, in finanzielle Not geraten oder krank geworden sind. Ihrer soll besonders gedacht werden. Das wird während des Gottesdienstes immer wieder deutlich.
Tiefgründige Texte mit teils religiösem Charakter
Auch das "Magnificat" als zentraler Bibeltext, das gemeinsame Vater unser und das Totengedenken, zu dem jeder auf den Altarstufen eine Kerze für seine vermissten Liebsten abstellen kann, sorgen für andächtiges Ergriffensein und ganz besonders anrührende Momente des Innehaltens. Vielleicht paradox, aber für manchen sicher eine ganz neue Erfahrung: Auch im Karneval kann selbst die bewusst leise vorgetragene Botschaft von überraschender Kraft und Intensität sein und das Gebet einen unverzichtbar zentralen Platz bekommen.
Kölsche Musik, Amen und Alaaf – diese außergewöhnliche Kombination muss man auch erst einmal hinbekommen, ohne zu riskieren, dass die Stimmung kippt und aus einem Gottesdienst eine Sitzung wird. Am Ende gelingt diese Gratwanderung – auch dank der einfühlsamen Moderation von Georg Hinz, der Stephan Brings an seiner Gitarre immer wieder dazu ermuntert, über die Entstehungsgeschichte von Hits wie "Halleluja" oder "Liebe gewinnt" zu sprechen. Die ernsten und tiefgründigen Texte mit teils religiösem Charakter gehen zum ersten Mal nicht in der Ekstase eines überschäumenden Karnevalssaals unter, sondern werden in dieser ungewohnten sakralen Umgebung zu einer ganz neuen Entdeckung und entfalten – in schwieriger Zeit – Wort für Wort einen durchdringenden Aufruf zu mehr Zusammenhalt, Solidarität und Gottvertrauen.