DOMRADIO.DE: Sie sind über Madrid nach Santiago de Compostela geflogen, dem Ziel vieler christlicher Pilger. Und statt Hunderte von Kilometern nach Santiago zu laufen, sind Sie direkt ins Stadtzentrum gegangen, dem Ziel der Jakobspilger. Beschreiben Sie mal, wie das für Sie war. Welche Erwartungen hatten Sie damals?
Prof. Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, Professor für Islamische Religionspädagogik in Münster): Ich war schlecht vorbereitet. Es war Pfingsten und ich bin einfach über Madrid nach Santiago de Compostela geflogen. Meine Erfahrungen als Pilger in Mekka hatte ich auf meine Erwartungen an diese christliche Pilgerfahrt projiziert. Ich erwartete Rituale um das Grab des Heiligen Jakobus; so ähnlich, wie man das in Mekka macht.
In Mekka geht man siebenmal um die Kaaba, dieses schwarze Gebäude. Dann geht man siebenmal zwischen zwei Hügeln durch, und so weiter. Die Pilgererfahrung dreht sich also um bestimmte Rituale. Ähnliches habe ich auch für Santiago erwartet.
Erst in Santiago habe ich verstanden, dass das eigentliche Pilgern aus dem Pilgerweg besteht. Man hat mir gesagt, man müsse mindestens 100 Kilometer zu Fuß gegangen sein, um als Pilger zu gelten. Daher habe ich beschlossen, den umgekehrten Weg für 100 Kilometer zu gehen.
DOMRADIO.DE: Sie waren also unterwegs, aber in der anderen Richtung, was wahrscheinlich zu Irritationen bei anderen Pilgern geführt hat. Wurden Sie vielleicht auch mal belächelt?
Khorchide: Viele, die mir entgegengekommen sind, haben große Augen gemacht. Man hat mir auf Englisch entgegengerufen: "Wrong Way!" – Denn mit meinem T-Shirt und Rucksack war ich unschwer als Pilger zu erkennen. Alle dachten: Das ist ein Pilger, aber er geht den falschen Weg.
Ich versuchte zu erklären, was mir passiert ist. Aber ich hatte den Eindruck, keiner kauft mir meine Geschichte ab. Dann habe ich angefangen, eine andere Geschichte zu erzählen, die ich erfunden hatte: Ich erzählte, dass ich die richtige Pilgerreise schon hinter mir hätte. Und nun würde ich mich auf dem Rückweg befinden. "So ein frommer junger Mensch", dachten sich einige.
DOMRADIO.DE: Aber gab es denn auch Irritation darüber, dass ein Muslim auf dem Jakobsweg unterwegs ist? War das überhaupt Thema?
Khorchide: Für diejenigen, die das mitbekommen haben, war das schon erstaunlich. Das waren aber ehrlich gesagt ziemlich wenige. Ich selbst war aber auch sehr erstaunt. Denn viele, mit denen ich gesprochen habe, waren gar keine Christen.
Manche sagten: "Religion ist mir egal", oder sogar: "Ich glaube nicht an einen Gott." – Das hat mich wirklich irritiert. Wieso pilgern Menschen, wenn nicht aus religiösen Gründen?"
Irgendwann habe ich verstanden, dass es für die Mehrheit ein Pilgern nach innen ist, also ein Weg, das eigene Leben zu reflektieren und sich eine Auszeit aus unterschiedlichsten Erfahrungen zu nehmen; sei es, dass man gerade in Rente gegangen ist oder gerade eine Trennung durchlaufen hat.
Es sind also sehr unterschiedliche Motive, die mehr weltlich sind, als dass sie mit Gott oder mit Religion zu tun hätten. Das hat mich überrascht. Diese Erfahrung war für mich neu.
DOMRADIO.DE: Was war denn das Ziel Ihrer christlichen Pilgerreise nach Santiago?
Khorchide: Die Entscheidung kam kurzfristig zu Pfingsten 2023, einfach aus Neugierde. Ich wollte nur wissen, was Christen so machen. Und ich wollte eine Auszeit nehmen, eine Woche einfach ausschalten, weg von der Arbeit.
Ich hatte aber nicht mit so vielen neuen Erfahrungen gerechnet. Dass ich in der "verkehrten Richtung" unterwegs war, hat vieles erleichtert. Leute haben mich angesprochen und sich für mich interessiert. Für sie war ich irgendwie eine komische Erscheinung.
Und weil alle davon ausgingen, dass man sich nie wieder im Leben begegnen wird, waren viele im Gespräch sehr offen. Es war möglich, intime und sehr intensive Gespräche zu führen. Daher kam dann auch erst allmählich der Gedanke, alles in einem Buch festzuhalten. Zu dem Zeitpunkt habe ich diese Erfahrungen einfach auf mich wirken lassen und habe viel für mich mitgenommen.
DOMRADIO.DE: Jetzt erscheint dieses Buch. Und in diesem Buch beschreiben Sie auch relativ am Anfang, dass es gar nicht einfach für Sie war, Ihren Eltern zu sagen, was Sie vorhaben. Wie haben die denn reagiert?
Khorchide: Die Reaktion meiner Mutter war: "Um Gottes Willen, bist du jetzt zum Christentum konvertiert. Wieso?" Sie hat mich angefleht, das meinem herzkranken Vater nicht zu sagen. Sie erinnerte mich daran, dass Jesus ja doch nur ein Prophet sei und nicht Gott.
Ich glaube, bis heute ist sie sich nicht ganz sicher, zu welcher Religion ich mich nun zugehörig fühle. Für mich sind Religionen aber nichts anderes als unterschiedliche Wege zu Gott. Und auf dem Jakobsweg habe ich realisiert: Religionen sind Wege zu uns selbst.
Es geht um Reflexion, den Sinn des Lebens, den Weg nach innen und den Weg nach außen. Brauchen wir größere Ziele im Leben? Reichen die kleinen Etappen im Leben, die wir bewältigen müssen? Damit setze ich mich in meinem Buch auseinander.
Ich spreche darin von der lauten Stille: Je stiller es unterwegs wurde, desto lauter wurde es in meinem Kopf. Diese laute Stille hat mich herausgefordert, indem plötzlich viele existenzielle Fragen auftauchten.
Ich begegnete vielen Menschen, die große Schicksalsschläge durchgemacht hatten. Ein 75-jähriger Mann aus den Philippinen zum Beispiel, der kaum noch gehen konnte, hat mir erzählt, dass er auf dem Jakobsweg pilgert, weil er vor sieben Jahren einen ganz schlimmen Autounfall hatte, bei dem seine Frau ums Leben kam.
Auch er selbst war lange Zeit im Koma. Und jetzt, wo er wieder gehen kann, pilgert er. Er sagte mir, er werde dabei von seiner Frau begleitet und könne so nochmals Zeit mit ihr verbringen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie selber denn auch auf dem Jakobsweg zu sich gefunden?
Khorchide: Dazu ist es erst spät gekommen. Es hat mich auch geärgert, dass ich die ganze Zeit nur mit Leuten und mit mir selbst gesprochen habe, aber sehr wenig mit Gott. Für mich ist das der große Unterschied zu einer Pilgerfahrt nach Mekka.
Dort spricht man aufgrund der vielen Rituale viel mit Gott. Ständig überlegt man sich, was man als nächstes tun muss, welches Gebet danach gesprochen werden muss. Deswegen spricht man dort viel mit Gott, aber die Begegnung mit sich selbst fehlt.
Auf dem Jakobsweg redet man sehr viel mit sich selbst, aber wenig mit Gott. Also ich zumindest. Und ich dachte, ideal wäre eine Pilgerreise, wo man beides hat, Gespräche mit sich selbst und Gespräche mit Gott. Eine Reise nach innen und eine Reise nach außen.
DOMRADIO.DE: Könnte der Dialog von Muslimen mit Christen von einer solchen Kombination profitieren?
Khorchide: Auf jeden Fall. Das alles zusammenzuführen würde beide Religionen bereichern. Deshalb habe ich die Vision, vielleicht schon zu Pfingsten 2025 eine gemeinsame Pilgerreise zu organisieren, dass also eine muslimische, christliche und vielleicht auch jüdische Gruppe gemeinsam auf dem Jakobsweg unterwegs ist und irgendwann auch einmal nach Mekka pilgert. Das wäre doch etwas Schönes.
DOMRADIO.DE: Vermutlich werden Sie beim nächsten Mal auch mit anderen Gedanken und Gefühlen nach Mekka pilgern?
Khorchide: Definitiv. In Mekka, aber auch generell im Leben versuche ich nicht mehr lediglich die religiösen Rituale richtig auszuführen, sondern mich selbst auch nicht aus dem Blick zu verlieren. Das habe ich auf dem Jakobsweg gelernt.
Das ist auch eine Perspektive, die ich fürs Alltagsleben mitgenommen habe: immer in dem Sinne Pilger zu bleiben, dass man auf der Suche nach sich selbst ist und über sich selbst reflektiert.
DOMRADIO.DE: Sie saßen anschließend im Flugzeug und haben dort noch ein Schlüsselerlebnis gehabt.
Khorchide: Neben mir saß eine ältere Dame, die etwas traurig war. Sie hatte es nicht über den ganzen Pilgerweg geschafft und musste am Ende den Bus nehmen. Das war für Sie eine Erfahrung des Scheiterns. Allerdings eher im positiven Sinne.
Das hat mir imponiert, dass auch dieses Scheitern eine Perspektive öffnen kann. Das Leben geht weiter, für gläubige Christen und auch für mich als Muslim. Es gibt ein Leben nach dem Tod und das ist auch eine Perspektive.
Und wir bleiben immer, wie gesagt, Pilger. Wir bleiben immer Suchende nach dem Sinn unserer Existenz. Das gibt doch Hoffnung. Das gibt Mut. Auch dann, wenn man sich an einem Tiefpunkt befindet. Dann steht man auf und sucht nach der nächsten Etappe.
Das Interview führte Dagmar Peters.