DOMRADIO.DE: Von dieser Provokation handelt Ihr neues Buch "Frieden auf Erden? Weihnachten als Provokation." Was ist der Kern dieser Faszination, die die Weihnachtsgeschichte ganz offensichtlich auch auf so viele Nicht-Christen ausübt?
Professor Eberhard Schockenhoff (Moraltheologe an der Universität Freiburg und Buchautor): Da kommen viele Faktoren zusammen. Es ist einmal die vorweihnachtliche Zeit, der sich niemand entziehen kann, weil unsere Gesellschaft als Ganzes so stark auf dieses Fest hin getrimmt ist. Aber es kommen auch noch besondere Dinge dazu, zum Beispiel der Zeitpunkt in der Winterzeit, wenn es dunkel wird. Dann besinnt man sich stärker auf das, was einem im Leben Halt gibt.
Dann ist es ein Familienfest, dass man sich mit den Familienangehörigen wieder trifft, vielleicht nur dieses eine Mal im Jahr auch über weite Distanzen hinweg.
Außerdem ist es ja die Funktion von Ritualen, und das gilt für das Weihnachtsfest in besonderer Weise, dass sie das Leben strukturieren, dass sie dem Fluss der Zeit eine Ordnung geben. An Weihnachten kommt vieles wieder in uns hoch, was wir das Jahr über erlebt haben. Wenn es positive Dinge waren, etwa ein schöner Urlaub oder die Geburt eines Kindes, dann erinnern wir uns daran und dann wird die Freude wieder lebendig. Aber auch, wenn es belastende Dinge waren, etwa das Zerbrechen einer Beziehung oder die erste Konfrontation mit einer schweren Erkrankung, dann drückt das auf die Stimmung, dann erleben wir das gewissermaßen im Zeitraffer noch einmal.
Und schließlich ist Weihnachten – das ist etwas alle Schichten Umgreifendes in der Gesellschaft – das große Fest des Friedens, da ist eine Sehnsucht nach Frieden und Harmonie im kleinen, privaten Kreis, aber auch darüber hinaus in der Welt insgesamt, die gerade an Weihnachten wieder wach wird.
DOMRADIO:DE: Und das hat auch mit der ursprünglichen "Provokation" zu tun, als die Sie Weihnachten bezeichnen. Das müssen Sie erklären.
Schockenhoff: Bei Lukas ist die Weihnachtsgeschichte ja nicht nur eine sentimentale Geschichte von der Geburt des Kindes im Stall, die berichtet wird, sondern das ist ein Kapitel subversiver politischer Theologie. Denn die Geburt dieses Kindes, das den eigentlichen Friedenskönig darstellt, ist eine Spitze gegen die politische Theologie am römischen Kaiserhof, wo ja der Kaiser sich selbst mit göttlicher Verehrung umgibt und den Anspruch erhebt, das eigentliche Friedensreich, die Pax Romana, gegründet zu haben.
Aber tatsächlich ist dieses auf Unterdrückung und Ausbeutung begründet. Die Botschaft von Weihnachten aber ist, dass wahrer Friede nicht durch Unterdrückung, Ausbeutung und Unrecht aufrechterhalten werden kann, sondern nur durch die Haltungen, die das Kind im Stall verkörpert, nämlich Demut und Liebe. Es ist ein Appell an die Gegenliebe der Menschen, damit dort, wo jeder von uns steht, mehr Liebe, Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt herrschen kann.
DOMRADIO.DE: Das hilflose, arme Kind Jesus als Friedensbringer – ein größerer Kontrast zum mächtigen Kaiser Augustus, der sich für seine "Pax romana" feiern ließ, ist ja kaum denkbar. Was bedeutet das für den christlichen Glauben?
Schockenhoff: Das bedeutet, dass wir eben Weihnachten nicht nur in folgenloser Ergriffenheit begehen können, in einer seelischen Stimmungslage, die praktisch eine Oktav höher als sonst gestimmt ist, aber dann nach Weihnachten auch ziemlich schnell wieder in sich zusammenbricht, ohne dass das irgendwelche Folgen für mein Handeln und mein Leben hätte.
Sondern wir können Weihnachten nur so feiern, dass wir das, wofür dieses Kind steht, im eigenen Leben praktizieren. Es heißt ja in der Weihnachtsbotschaft der Engel: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden". Und diese beiden Glieder des Weihnachtsrufes haben miteinander zu tun. Denn nur dort kann wahrer Frieden zwischen den Menschen herrschen, wo sie allein Gott die Ehre geben. Nur so haben sie untereinander eine Basis der Gleichheit und Ebenbürtigkeit, die zum Fundament von Liebe, Gerechtigkeit und Frieden werden kann.
Wenn sie dagegen für sich selber die Ehre beanspruchen, die allein Gott gebührt, dann beginnt der Streit, weil dann Ungleichheit unter die Menschen kommt. Ein solcher Machtmissbrauch, eine solche Machtanmaßung kann nur zu Unfrieden und Streit führen.
DOMRADIO.DE: Ein Gott, der als Darstellungsform seiner Macht ausgerechnet die Ohnmacht eines Neugeborenen wählt – das musste das damalige gängige Gottesbild erschüttern, oder?
Schockenhoff: Ja. Und das ist auch für heute noch eine Provokation. Aber damals stellte man sich etwa in der griechischen Philosophie Gott als etwas radikal Transparentes, Geistiges vor, auch als eine unwandelbare Macht. Jede Art der Veränderung galt als ein Mangel an Sein, als etwas Defizitäres, und deshalb musste Gott als absolut unwandelbar gedacht werden. Und dass Gott in der Menschwerdung seines Sohnes sich nun selbst den Menschen gleich macht, auf den Menschen zugeht, einer der ihren wird, so wie der Johannes-Prolog sagt "Fleisch wird" – Inkarnation bedeutet ja wörtlich "Fleischwerdung" -, das sprengte alle Koordinaten dieses metaphysischen Denkens.
DOMRADIO.DE: Wie gesagt – viele berührt die Geschichte bis heute, ergreift sie buchstäblich. Aber die Weihnachtsgeschichte ist ganz und gar nicht auf folgenlose Ergriffenheit ausgelegt. Auf was dann?
Schockenhoff: Darauf, dass sie im Leben der Hörerinnen und Hörer Resonanz findet. Ein Kind ist ja ein Symbol der Hilfsbedürftigkeit, der Wehrlosigkeit. In einem Kind, da ballt sich keine Macht zusammen, sondern ein Kind ist wie eine ausgesteckte Hand, ein Appell, ein Schrei nach Hilfe. Diesen Schrei aufzunehmen und die Hilfe zu gewähren, das ist es, was Lukas mit seiner Geburtsgeschichte eigentlich erreichen möchte. Gott kann in dieser Welt nicht anders handeln, als in den Menschen, die sich ihm zur Verfügung stellen. Nur so kann er seine Sehnsucht, seinen Traum, vom Frieden unter den Menschen verwirklichen.
DOMRADIO.DE: "Wirklich verstanden", schreiben Sie in Ihrem neuen Buch, "haben wir das Kommen Gottes zu uns Menschen erst dann, wenn wir uns von der Liebe Gottes dazu provozieren lassen, zu Menschen des Friedens zu werden". Wie werden wir Menschen des Friedens?
Schockenhoff: Indem wir uns zunächst als ebenbürtig mit allen anderen begreifen. Wir müssen aufhören, uns immer wieder mit anderen zu vergleichen, wir müssen aufhören sie um das zu beneiden, was sie erreicht haben, wir müssen aufhören, unzufrieden zu sein mit dem Stand, den wir selbst erreicht haben.
Denn Weihnachten sagt doch gerade das: Ganz gleich, was du in deinem Leben erreicht hast oder nicht erreicht hast, was dir gelungen ist oder nicht gelungen ist, das Entscheidende, auf das du dein Leben bauen kannst, ist, dass Gott in diesem Kind Jesus von Nazareth dir, wie allen Menschen, seine Liebe schenkt. Das ist es, wodurch du in deinem Dasein berechtigt bist. Nicht durch das, was du aus eigener Leistung erbringen kannst. Denn wenn das noch so viel wäre, es würde nicht ausreichen, deinem Leben einen dauerhaften, verlässlichen Sinn zu geben.
Das Interview führte Hilde Regeniter.