DOMRADIO.DE: Sie beziehen sehr deutlich Stellung und sagen, hier werden europäische Werte mit Füßen getreten. Woran genau machen Sie das fest?
Prälat Peter Neher (Caritas-Präsident): Zum einen daran, dass die türkische Regierung Menschen praktisch an die Grenze lockt, mit dem Versprechen, dass die EU-Grenzen offen seien. Zum anderen daran, dass keinerlei Hilfsmöglichkeiten bestehen und Menschen sozusagen im Niemandsland sind. Und das Dritte: Wenn die griechische Regierung bzw. Europa mit Waffengewalt gegen Flüchtlinge vorgeht, ist das inakzeptabel, weil das Ganze eigentlich ein insgesamt menschenverachtender Vorgang ist, ausgelöst durch den Krieg in Syrien.
DOMRADIO.DE: Heute besucht jetzt eine Reihe von EU-Spitzenpolitikern das griechisch-türkische Grenzgebiet. Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin ist auch dabei. Finden Sie das sinnvoll? Und was erwarten Sie von diesem Besuch?
Neher: Ich denke, dass es sehr sinnvoll ist, dass dort tatsächlich eine hochrangige EU-Vertretung hinreist. Allerdings warne ich davor, dass die Unterstützung Griechenlands nur darin besteht, die Grenzsicherung auszubauen und Frontex zur Abschottung einzuspannen.
Griechenland braucht tatkräftige Unterstützung in der Bewältigung der Situation - auch mit Blick auf die Flüchtlinge, die jetzt schon auf den Inseln sind. Und es braucht dringend Gespräche mit der Türkei, damit dieser Wahnsinn beendet wird und hier nicht die Menschen zum Spielball der Politik gemacht werden.
DOMRADIO.DE: Caritas International ist schon länger aktiv auf den griechischen Inseln. Angesichts dieser neuen Situation will Caritas International die Arbeit dort - vor allen Dingen auf Lesbos und Chios - weiter verstärken und ausbauen. Was genau brauchen die Menschen da?
Neher: Ich denke, das ist ganz vielfältig. Es beginnt mit ganz banalen Utensilien des Alltags, Hygieneartikeln und all dem, was zum Leben notwendig ist. Aber Caritas ist hier nochmal in besonderer Weise in der psychologischen Betreuung der Menschen involviert, gibt rechtliche Beratung, organisiert medizinische Hilfe, die das notwendigste Überleben der Menschen dort sichert. Das wollen wir gerade auf diesen beiden Inseln weiter ausbauen.
DOMRADIO.DE: Hier in Deutschland mehren sich jetzt auch wieder die Stimmen, die vor einer ähnlichen Situation wie im Sommer 2015 warnen. Angesichts dessen: Wie kann jetzt ein richtiger Umgang mit den Menschen an den Grenzen Europas aussehen - mit den Menschen, die wirklich Not leiden?
Neher: Ich glaube, es braucht dringend das politische Gespräch zur Beendigung des Krieges in Syrien. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Luftangriffe Russlands und auch des Assad-Regimes diese neue Flüchtlingswelle ausgelöst haben. Dann brauchen wir regionale Lösungen. Denn die meisten dieser Menschen möchten in der Region bleiben, um nach Möglichkeit wieder in ihr Heimatland zurückzukehren. Und das Dritte ist dann, dass sich die Länder in Europa zusammentun, die bereit sind, Kinder, Eltern, besonders hilfsbedürftige Menschen aufzunehmen.
Ich denke, auch in unserem Land gibt es eine Reihe von Kommunen und Organisationen, die durchaus bereit sind, hier geflüchteten Menschen beizustehen. Aber dieses Gesamtpaket braucht es. Und es darf tatsächlich nicht mehr zu einem solchen Ansturm kommen, wie es 2015 war - auch damals ausgelöst durch den Krieg in Syrien.
Das Interview führte Hilde Regeniter.