Der Weg in das bei Touristen beliebte römische Kneipenviertel Trastevere führt fast unweigerlich an seinem Wirkungsort vorbei: Sant'Edigio. Die nach dem Gotteshaus benannte und dort ansässige Gemeinschaft Sant'Egidio, die weltweit für ihren karitativen Einsatz bekannt ist, ist das Herzstück, "das Baby" von Andrea Riccardi.
Der 71-jährige Gründer der christlichen Organisation, die über ihre internen Strukturen wenig an die Öffentlichkeit dringen lässt, hat den Weg hinein in das Elend und die Konflikte nie gescheut. Am Mittwoch erhält Riccardi für seine Wirken, das in rund 70 Länder strahlt, das Bundesverdienstkreuz - verliehen durch den Deutschen Botschafter in Italien.
Praktisch Gutes tun
Der 1950 in Rom geborene Katholik hat seit seiner von der 68er-Bewegung geprägten Studentenzeit Glaube und gesellschaftliches Engagement als untrennbar verbunden begriffen. Bereits in seiner Gymnasialzeit gründete Riccardi, der aus einem nicht unbedingt kirchennahen bürgerlichen Haushalt stammte, mit Freunden eine christlich motivierte Gruppierung, aus der die Gemeinschaft Sant'Egidio erwuchs. Die Schüler und Studenten wollten nicht nur beten und über eine bessere Welt theoretisieren, sondern praktisch Gutes tun. Sie gingen in die bis heute existierenden Armenviertel in Rom, sie organisierten Kleidersammlungen, Suppenküchen für Obdachlose und versorgten Kinder, Alte, Geflüchtete.
Im Hauptberuf ist Riccardi - nach einem Abstecher in die Juristerei - Historiker. Er lehrte zunächst an der Universität Bari, später an den beiden römischen staatlichen Universitäten La Sapienza sowie Roma Tre. Seit 2015 ist er Präsident der italienischen Sprachgesellschaft Dante Alighieri und zeigt angesichts der Zahl öffentlicher Veranstaltungen trotz seiner 71 Jahre keine Arbeitsmüdigkeit.
Sein wissenschaftliches Werk, das kaum ins Deutsche übersetzt wurde, befasst sich vorrangig mit der Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit der modernen italienischen Gesellschaft. Immerhin entstand das heutige Italien aus dem Aufstand gegen den Kirchenstaat, was die Hassliebe der beiden Staaten erklärt. Die Frage des Konflikts steht auch im Mittelpunkt seines auch auf Deutsch verfügbaren Buches "Die Kunst des Zusammenlebens - Kulturen und Völker in der globalisierten Welt". Darin argumentiert Riccardi dafür, dass ein friedliches Miteinander möglich ist.
Das Netz der Menschlichkeit der Gemeinschaft Sant'Egidio wuchs und wuchs in den vergangenen 53 Jahren stetig. Im Wachsen wurde auch die Amtskirche immer stärker mit Sant' Egidio verbandelt, teils so eng, dass dem Historiker Riccardi zeitweise Rechte zugesprochen wurden, die Geistlichen vorbehalten sind, etwas das Predigen.
Weltfriedenstreffen der Religionen in Assisi
Papst Johannes Paul II. wurde zu einem Fürsprecher Riccardis. Beide sahen den Glauben als eine Größe, die politische Systeme friedlich überwinden kann. Das Weltfriedenstreffen der Religionen in Assisi im Jahr 1986 war die sichtbare Frucht dieses neuen Denkens, und Riccardi wusste diesen "Geist von Assisi" auch über das Pontifikat von Johannes Paul II. weiterzutragen. Selbst im Pandemiejahr 2020 ließ es sich Sant'Egidio nicht nehmen, mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit zum jährlichen interreligiösen Friedenstreffen einzuladen und Prominenz zu versammeln. Erstmals seit 2016 nahm auch Papst Franziskus wieder teil.
Kirchenrechtlich ist die Gemeinschaft ein "öffentlicher Verein", bei dem alle vier Jahre ein Rat und ein Präsident - derzeit Marco Impagliazzo, ebenfalls Historiker - gewählt werden. Zudem ernennt der Päpstliche Laienrat einen geistlichen Generalassistenten. Doch Riccardi bleibt das Gesicht der Gemeinschaft und - so sagen viele - auch der Strippenzieher hinter den Kulissen.
2009 hatte Riccardi bereits den Aachener Karlspreis erhalten, der sonst üblicherweise verdienten Politikern zuteil wird. Auch wenn er keine unmittelbaren Beiträge zur politischen Einigung Europas vorweisen konnte, ist Riccardi letztlich durch seine Konfliktvermittlung, durch die weltweit wirkenden Friedenstreffen, Kampagnen und Appelle, zuletzt zur Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesundheitspolitik und der Reform der Migrationspolitik, so politisch, dass die internationalen Auszeichnungen nicht verwundern.