Soziale und geografische Extreme bestimmen den Andenstaat Chile. Das superschlanke Land erstreckt sich von der Südspitze Südamerikas über rund 4.300 Kilometer bis hin zur Grenze nach Peru. Im Norden gibt es die trockenste Wüste der Welt, die Atacama, im Süden eine reiche Vegetation mit Seen, Vulkanen, Urwäldern und Steppen. In dieser fruchtbaren Region siedelten sich Mitte des 19. Jahrhunderts auch viele deutsche Farmer an.
Große soziale Gegensätze
So groß wie die klimatischen Unterschiede sind auch die sozialen Gegensätze Chiles mit seinen 18 Millionen Einwohnern. Trotz der im kontinentalen Vergleich sehr hohen Wirtschaftsleistung leben Hunderttausende in Armut. Viele früher selbstständige Kleinbauern arbeiten inzwischen in landwirtschaftlichen Großbetrieben, die vor allem für den Export produzieren.
Traurige Berühmtheit errang das Land durch die Militärdiktatur General Augusto Pinochets (1973-1990). In dieser Zeit wurde jede Opposition unterdrückt, die Menschenrechte mit Füßen getreten. Mittlerweile ist die junge chilenische Demokratie gefestigt; allerdings sind viele Menschen über die schleppende Aufklärung der Diktaturverbrechen enttäuscht.
Südamerikas Exportmeister
Während die meisten anderen Tigerstaaten Lateinamerikas wirtschaftlich schwächeln - Argentinien etwa und vor allem Brasilien -, steht der Musterknabe Chile weiter vergleichsweise gut da. Daran hat auch die Erdbebenkatastrophe 2010 wenig geändert. Kupfer, Wein, Holz und Obst machen das OECD-Mitglied zu Südamerikas Exportmeister.
Das Durchschnitts-Pro-Kopf-Einkommen ist kontinental Spitze - allerdings auch das enorme Gefälle zwischen Arm und Reich. Der chilenischen Volkswirtschaft, etabliert als neoliberales Reagenzglas-Experiment unter der Diktatur Pinochets, fehlt fast jede soziale Dimension.
Nachdem der Sozialist Salvador Allende Anfang der 70er eine umfassende Landreform eingeleitet und Betriebe verstaatlicht hatte, vollzog die Militärjunta nach dem Putsch eine radikale Wende: einen Kapitalismus in Reinform nach dem Modell der "Chicagoer Schule".
Allerdings gab Pinochet das enteignete Land nicht den Großgrundbesitzern zurück - die unter Allende bereits entschädigt worden waren -, sondern an Großunternehmen.
So konnten etwa Holzfirmen den Mittleren Süden mit einer schnell wachsenden Kiefernmonokultur überziehen, während sich die Ureinwohner, die Mapuche, mit winzigen, wenig fruchtbaren Parzellen begnügen müssen. 57 Prozent des Grundes befanden sich 2013 in der Hand von nur 3 Prozent der Bevölkerung; 51 Prozent der Chilenen bewirtschaften nur ein kleines Stück Land.
Neoliberales Modell
Das neoliberale Modell ist gesetzt - quer durch alle etablierten Parteien. Das liegt wohl auch daran, dass sich in Chile ausschließlich Politik und Wirtschaft gegenseitig befruchten: Unternehmer wechseln in die Politik, Politiker in die Wirtschaft. Es fehlen alternative Ideen und Modelle, sozial- und geisteswissenschaftliche Impulse.
Auf der Agenda der nun abtretenden sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet standen soziale Gerechtigkeit und kostenfreie Hochschulbildung. Doch die Nach-Diktatur-Verfassung mit lediglich einer Legislaturperiode von vier Jahren begünstigt grundlegende Reformen nicht. Auch Bachelet konnte in der durch und durch marktliberalen Volkswirtschaft Chiles nur einige wenige gesetzliche Grundlinien von Solidarität einziehen, etwa im Arbeitsschutz oder bei der Bildung von Gewerkschaften - ohne freilich grundlegend am neoliberalen Comment des Landes zu rühren.
Reich und arm unter sich
Und so bleibt auch ein Grundübel des Landes bestehen - der Verkauf von höherer Bildung nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung, gesetzlich etabliert noch am letzten Tag der Pinochet-Diktatur.
Tatsächlich sind laut einer OECD-Studie die relativen Kosten, ein Kind studieren zu lassen, in Chile immens hoch. Sehr viele Absolventen gehen mit Zehntausenden Euro Schulden ins Berufsleben.
Eine anschauliche Folge des elitären Grundkonzepts im chilenischen Bildungssystem: Die Eliteunis in den Reichenvierteln sind nicht mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Und egal, ob du ein gutes oder ein schlechtes Examen ablegst: Reiche und Arme bleiben immer unter sich.