Selbst war der junge Mann, der vorne im Mittelschiff demonstrativ ein Banner mit dem Jerusalemkreuz über die Kirchenbank legt, noch nie im Heiligen Land. Trotzdem ist er seit einigen Jahren Mitglied im Heiligland-Verein. "Weil mir wichtig ist, Projekte wie die Schmidt-Schulen in Jerusalem, die Mädchen christlichen und muslimischen Glaubens gemeinsam besuchen, zu unterstützen – damit die nächste Generation in einer Haltung des Friedens aufwächst und sie wichtige Werte wie Weltoffenheit und religiöse Toleranz lernt", sagt er, will seinen Namen aber nicht nennen. Er habe viele Freunde, die Atheisten seien. Da wolle er lieber keine Grundsatzdiskussionen heraufbeschwören.
Trotzdem ist er an diesem Abend aus Überzeugung in den Dom gekommen, um mitzubeten für den Frieden. "Dieses Anliegen ist mir als Christ und Mensch wichtig: dass es eine Lösung für den Krieg in Nahost gibt und dieser nicht noch weiter eskaliert." Aus diesem Grund habe er auch die Einladung, die an alle Vereinsmitglieder gegangen sei, angenommen. Mit dem Gebet wolle er seinen Teil beitragen und eines Tages, wenn es denn wieder möglich sei, auch alle Stätten im Heiligen Land einmal persönlich besuchen.
"Es ist immer gut, für den Frieden zu beten – im Heiligen Land und anderswo auf der Welt", findet Peter Rettler. Der erste Schritt aber sei, bei sich selbst anzufangen. „Denn Frieden kann nur von innen kommen; er entsteht im Kleinen.“ Mit Gewalt sei jedenfalls kein Frieden zu erreichen.
"Für mich ist es wichtig, dafür auch öffentlich einzustehen, indem ich hier im Dom bete. Ich will zeigen, dass ich keine Angst habe", ergänzt Waltraud Stille. Sie habe Verständnis dafür, wenn inzwischen manch einer aus Furcht vor einem terroristischen Anschlag solche Menschenansammlungen meide, aber sie sage sich dann eher: Jetzt erst recht. "Sonst hätten die, die uns einschüchtern wollen, ja gewonnen."
Es bleibt unklar, ob andere nicht ähnliche Überlegungen angestellt und dann für sich entschieden haben, lieber nichts riskieren in Zeiten, in denen eine zunehmende Terrorgefahr auch von Politikern als solche klar benannt wird. Jedenfalls bleiben die hinteren Bankreihen im Dom überraschend licht, viele Plätze unbesetzt.
Dabei könnte man doch meinen, sich über das Gebet mit Menschen im Krieg solidarisch zu verbinden, müsste – zumindest unter Gläubigen – einen selbstverständlichen Reflex auslösen und ganze Massenbewegungen der Anteilnahme auslösen. Aber es ist eben gerade nichts wie sonst – in friedlichen Zeiten; der Krieg in Nahost hat vieles aus dem Lot gebracht. Der entstandene Flächenbrand im Lande Jesu zeitigt – genauso wie der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine – neue, nicht gekannte Ängste, Vorbehalte und Reaktionen.
Im Ausnahmezustand entwickelt der Mensch ganz automatisch Schutzmechanismen, um lebensfähig zu bleiben. Und so spricht Kardinal Woelki in seiner Predigt die Einladung an seine Zuhörerinnen und Zuhörer im Dom aus, von Zeiten des Friedens zu träumen. Denn Zeiten wie diese, so argumentiert er wörtlich, würden gerade dazu zwingen zu träumen. "Sie führen uns eines besonders vor Augen: So wie es jetzt ist, soll es nicht sein. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben – auch wenn man sich manchmal an all den Wahnsinn da draußen zu gewöhnen scheint."
Aber dies sei nicht das Leben, das Menschen leben sollten: in ständiger Angst, in der Sorge vor immer neuen Bombennächten, vor Zerstörung und Tod, vor immer neuem Terror und Gräueltaten, vor Hass, Rache und Trauer um Freunde und Familie, vor bedrohter Freiheit.
Seit dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres, stellt Woelki fest, befinde sich das Heilige Land in einem unendlich grausamen, blutigen Krieg. Die Menschen litten unter dieser Gewalt, bangten um die von der Hamas verschleppten Geiseln, beklagten ihre Toten und fürchteten um ihr eigenes Leben und das ihrer Lieben. Der Krieg fordere immer mehr Opfer: in Israel, in Gaza. Im Westjordanland, im Libanon, in Syrien, in Jemen und im Iran.
Gebet ist stärker als Waffenarsenale
Gerade deshalb betont der Kardinal den Zusammenhalt und die Solidarität mit den unmittelbar von diesem Leid Betroffenen: "In diesen Zeiten wissen wir uns an ihrer Seite. Und wir schenken ihnen, und zwar allen Opfern des Krieges, das Wichtigste und das Größte, was wir haben: unser Gebet, unser Gebet um Frieden und Versöhnung, weil wir als Christen davon überzeugt sind, dass ein solches Gebet vor Gott stärker ist als alle Waffenarsenale dieser Welt zusammen, dass ein solches Gebet vor Gott ein wirksames Werkzeug ist für den Frieden."
Auch wenn sich gerade niemand traue, von einem anderen Leben zu träumen und sich die Zukunft in bunten Farben und voller Freude auszumalen – im Gegenteil: für die Menschen im Heiligen Land die vielen kleinen Träume von einer guten Zukunft und einem versöhnten Miteinander gerade weit weg schienen – so wolle er doch mit allen Anwesenden gerade deshalb von Zeiten des Friedens, aber eines gerechten Friedens und eines Friedens in Freiheit und Gerechtigkeit, träumen; "von Zeiten, in denen Menschen sich als Schwestern und Brüder erkennen und annehmen und sie das Lebens- und Existenzrecht eines jeden akzeptieren und dafür eintreten".
Auf Gottes Verheißungen hoffen
Und er wolle daran erinnern, dass es da keinen Geringeren gebe als Gott selbst, der alle kleinen und großen Träume mitträume. "Seit je her hat Gott Freude daran, uns Träume und Verheißungen zu schenken." Dabei allein aber bleibe es nicht, er erfülle sie auch. Gott sei treu und halte seine Versprechen, versichert der Kölner Erzbischof, auch wenn seine Verheißungen mitunter ein anderes Gewand bekämen, seine Lösungen anders aussähen als unsere. Und genau darauf dürften Christen ihre Hoffnung setzen. "Genau diese Hoffnung und diese Zuversicht möchte ich hier und heute Abend mit Ihnen teilen."
"Auch in Zeiten wie diesen dürfen wir trotz allem darauf vertrauen, dass Gott die Not seiner Kinder sieht. Gerade angesichts der Not des Todes und der Ungerechtigkeit, der Trümmer und der blutenden Wunden, die nicht heilen wollen. Er trauert mit uns angesichts dessen, wie Menschen miteinander umgehen und was sie einander alles antun", unterstreicht Woelki. Und weiter: "Gott ist mit uns. Er träumt mit uns. Wo die schmerzhaften Rufe der Geschundenen zum Himmel schreien, wird er sie hören." Davon zeuge die ganze Offenbarung.
"Gott hat manchmal Träume und Pläne mit uns, die besser sind als alles, was wir uns erträumen und erhoffen können." Aber er lasse niemanden im Elend hoffnungslos allein. Er lasse grausame Ungerechtigkeit nicht ungesühnt. "So etwas tut er nicht", so Woelki. "Das, was wir allerdings brauchen, ist das Vertrauen in ihn und Geduld. Und das ist manchmal schwer. Da wird unser Glaube manchmal hart auf die Probe gestellt."