DOMRADIO.DE: Herr Metternich, nach monatelangem Lockdown in der Kölner Dommusik bereiten Sie sich mit dem Lied "Wir singen weiter" auf einen vorsichtigen "Re-Start" an diesem Montag vor. Wie kann der aussehen?
Eberhard Metternich (Domkapellmeister und Leiter der Kölner Dommusik): Das Wichtigste ist, dass sich nach drei Monaten Stillstand unseres Chorlebens eine Perspektive abzeichnet, die heißt: Wir werden uns vor den Sommerferien noch einmal alle – wenn auch nicht alle zeitgleich – sehen, bevor sich dann erst einmal wieder unsere Wege für sechs Wochen trennen. Nachdem wir parallel zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs in der Domsingschule zunächst mit Singeinheiten für die Grundschulkinder in Gruppen zu maximal sechs Mädchen und Jungen begonnen hatten, wollen wir nun allmählich den Chorbetrieb – selbstverständlich nach den Hygiene- und Abstandsvorschriften der Corona-Schutzverordnung – wieder hochfahren und, soweit möglich, wieder ein Stück Normalität herstellen.
Das heißt, die Sängerinnen des Mädchenchores und die Knaben des Domchores können in den nun offiziell zulässigen Gruppen von bis zu 13 Sängern einmal wöchentlich proben. Das entspricht nicht unserem üblichen Pensum, ist aber schon mal ein Anfang. Wir sind in der glücklichen Lage, in unserem Chorzentrum, dem Kardinal-Höffner-Haus, über zwei Chorsäle mit hochmodernen leistungsfähigen Lüftungsanlagen zu verfügen, die die Aerosole, die das Singen so gefährlich machen, ständig verdünnen und abführen. Das sind wirklich sehr gute Voraussetzungen, um niemanden zu gefährden und mit den Proben wieder starten zu können.
DOMRADIO.DE: Wie kam es nun zu diesem Lied, dessen Titel ja ein Statement ist und sich wie eine Durchhalteparole anhört?
Metternich: Schnell stand fest, dass unser "Neustart" mit einem einprägsamen Lied beginnen sollte, das alle – angefangen bei den Kleinsten in den dritten Schuljahren über die Knaben und Mädchen bis hin zu den Erwachsenen und jedem Lehrer in der Dommusik – in der Tat zum Durchhalten in dieser schwierigen chorfreien Zeit animiert. Den Text und die Musik hat einer unserer Grundschullehrer, Johannes Grewelding, geschrieben, der selbst im Kölner Domchor groß geworden ist, heute im Ensemble "Vokalexkursion" mitsingt und schon mal gerne in der Pop-Richtung unterwegs ist. Nun hat er einen wirklich tollen Song komponiert, der keine der einzelnen Gruppen – quer durch die Generationen – überfordert und allen beim Einstudieren sichtlich viel Freude gemacht hat. Schließlich musste sich jeder zuhause selbst nach den Noten, einer Hörprobe und auch einem vorgegebenem Metronomschlag seine Stimme beibringen und dann eine Aufnahme einreichen. Dazu hat am Ende nur eine einzige Online-Probe mit meinem Kollegen Oliver Sperling und mir stattgefunden, bei der ich alle Sänger zwar sehen, aber nicht hören konnte.
Es war also ein ambitioniertes Projekt, das von jedem Einzelnen viel Fleiß erforderte und zu dem jetzt weit über 400 Einzeldateien vorliegen, die zurzeit ein Schnittmeister zu einem einzigen großen "Virtual choir" zusammenbindet. Für mich ist dieses Lied ein wichtiges Motivationselement, um über diesen langen Zeitraum, in dem wir uns nicht persönlich treffen konnten, mit meinen Sängern und auch allen anderen Mitgliedern der Dommusik im Austausch zu bleiben.
DOMRADIO.DE: Dann liegt also bald eine virtuelle Kostprobe von dem vor, was hoffentlich absehbar wieder Realität sein wird. Wie groß ist bei Ihnen die Sehnsucht, schon bald wieder einen vollen Chorklang – und zwar nicht nur aus dem Off – zu hören?
Metternich: Als ich am Palmsonntag als Kantor zum ersten Mal seit Mitte März wieder ein Vokalquartett im Dom live erlebt habe, lief es mir schon kalt über den Rücken. Natürlich fehlen mir die vielen gemeinsamen Stimmen, und mir fehlt der unmittelbare Kontakt zu "meinen" Sängern. Denn normalerweise führt uns ja das Singen zusammen. Im Moment kann ich jeden nur über Übungen, die ich im Video-Chat anbiete, einzeln hören und mir von der Stimme ein Bild machen. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass ich von den momentan 90 Sopran- und Altstimmen ab den Ferien 15 in den Stimmbruch verabschieden werde. Dazu können über den Sommer weitere Jungen kommen, bei denen sich die Stimme in Richtung Stimmwechsel entwickelt; das "Übel" eines jeden Knabenchorleiters, aber auch oft der Jungen selbst, die bei früh einsetzendem Stimmbruch auf viele Erlebnisse verzichten müssen. Denn in dieser Voicebreaker-Gruppe sind auch schon 11-Jährige mit dabei. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass ich den Knabenchor im September ziemlich neu aufbauen muss.
DOMRADIO.DE: Wie füllt ein Chorleiter die "Leerstelle", wenn die sonst täglichen Proben – neben dem Domchor leiten Sie ja auch noch das Vokalensemble Kölner Dom – ausfallen?
Metternich: Ich habe endlich einmal mehr Zeit am Klavier verbracht, aber mit anhaltender Dauer des Lockdowns doch auch gemerkt, wie sehr mir – wie gesagt – das gemeinsame Musizieren fehlt. Ich war immer schon jemand, der lieber im Verbund mit anderen Musik gemacht hat.
Ja und dann gab es ja in den ersten Wochen auch viel zu regeln. Wir mussten eine Reihe von Konzerten absagen, was mit großen Enttäuschungen auf allen Seiten verbunden war. Und auch die Hoffnung, einmal mit gewonnener Zeit langfristig planen zu können, erfüllte sich nicht. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass es wohl erst richtig wieder losgehen kann, wenn vielleicht im Frühjahr 2021 ein Impfstoff gefunden ist. Diese bittere Wahrheit möchte man einfach nicht schlucken. Denn was machen wir bis dahin? Wie überbrücken wir im Kulturbetrieb bis dahin die Zeit? Noch öffnet kein Konzertsaal für großes Publikum, spielt keine Oper ihr Repertoire. Das heißt, für alle Mitarbeiter dieses Sektors besteht gleichermaßen absolute Planungsunsicherheit. Für Chöre im Laien- oder semiprofessionellen Bereich ist zudem das Erleben der singenden Gemeinschaft existenziell wichtig.
Auch der Betrieb im Dom ist derzeit alles andere als Routine. In den Gottesdiensten war zunächst keine Gemeinde zugelassen, dann durfte die Gemeinde wieder kommen, aber nicht singen. Für jedes Szenario mussten neue Gestaltungskonzepte entwickelt werden. Da half einem die jahrelange Erfahrung erstaunlich wenig. Normalerweise würden wir jetzt unser Programm für die nächste Konzertsaison am Dreikönigenschrein vorstellen. Aber niemand weiß, was im September sein wird. Momentan bereite ich mich darauf vor, in kleinen Besetzungen zu denken. In jedem Fall geht es darum, die Dommusik, die schließlich auch von den Konzerten im Dom lebt, am Leben zu erhalten. Auch wenn uns gerade konkrete Ziele fehlen, auf die wir hinarbeiten können, werden wir nun die Krönungsmesse von Mozart angehen. Ein solches Programm kann nie schaden und wäre erst einmal eine solche konkrete Aufgabe.
DOMRADIO.DE: Normalerweise wäre vor ein paar Tagen ein südkoreanischer Jugendchor im Dom aufgetreten. Mitte Juni sollte ein Knabenchor aus dem norwegischen Trondheim zu Gast sein. Ich stelle es mir nicht leicht vor, ausgerechnet das, was bei der Dommusik alle am liebsten tun, nämlich gemeinsam zu musizieren und über die Musik auch einen Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten, auf lange Sicht ruhen lassen zu müssen…
Metternich: Einiges davon waren Hängepartien bis zum Schluss, und diese Phase der Absagen war in der Tat sehr bitter. Gerade die Sänger aus Trondheim, deren Besuch wir schon im vergangenen Jahr verschieben mussten, wären sehr gerne gekommen und haben mit ihrer Entscheidung bis zum letzten Moment gewartet. Auch der Chor aus Grenoble hatte lange gehofft und gebangt, dass es doch noch gehen würde. Oder die Sänger aus Barcelona. Wir hätten – laut Programm – ab Ostern vier internationale Chorbegegnungen gehabt.
Auch die Absagen der Probenwochenenden für die Jüngsten oder der geplanten Konzertreisen in diesem Jahr schmerzen. Der Domchor hätte an einem Festival in Portugal teilgenommen, der Mädchenchor an einem in Lecco/Italien, das Vokalensemble Kölner Dom wäre nach Frankreich und Luxembourg gefahren und die Domkantorei zu ihrem 25-jährigen Bestehen im Herbst nach Prag. Solche Reisen sind ja neben den Gottesdiensten in unserem Dom das, worauf sich alle Sänger immer am meisten freuen und was auch den Zusammenhalt untereinander noch einmal enorm fördert.
DOMRADIO.DE: Wie sieht es denn aktuell mit der "Missa solemnis" am 21. August unter Kent Nagano im Rahmen des Bonner Beethoven-Festes aus?
Metternich: Noch ist dieses Konzert nicht abgesagt, aber unter den derzeitigen Bedingungen ist es eigentlich nicht machbar. Es sei denn, es gäbe noch weitere Lockerungen. Dann wäre eine der Voraussetzungen, dass alle Mitwirkenden getestet sein müssten.
DOMRADIO.DE: Können Sie angesichts dieser vielen unwiederbringlichen Ereignisse der Corona-Krise dennoch etwas Positives abgewinnen?
Metternich: Trotz eines erheblichen Mehraufwandes an Organisation konnte ich mit meinen Kollegen auch neue musikalische Ideen entwickeln. Dadurch, dass wir als Kantoren zwei Monate lang jede gestreamte Werktagsmesse gestaltet haben, als öffentliche Gottesdienste noch nicht erlaubt waren, konnten wir dem Kantorenamt ein neues Profil geben, so dass dieser Dienst an Bedeutung gewonnen hat und auch bewusster wahrgenommen wurde. Unsere Psalmen-Improvisationen wollen wir in dieser Form beibehalten und weiter etablieren. Letztlich hat dieser tägliche Einsatz eine ganz neue Dynamik freigesetzt. So haben wir zur Kommunion beispielsweise auch mal Arien mit Orgelbegleitung gesungen. Das war etwas, was wir ausprobiert haben und durchaus auf positive Resonanz gestoßen ist.
Außerdem hat das Gürzenich-Orchester Köln seine Unterstützung angeboten, den fehlenden Gemeindegesang in den Sonntagabendmessen mit Instrumentalmusik aufzufangen. Seit einigen Wochen spielen nun jeweils kleine Ensembles. Das sind mal zwei Posaunen oder vier Celli; Musiker, die einfach Lust am Musizieren im Kölner Dom haben und die sonst mit uns beim traditionellen großen Domkonzert kooperieren. Sie sind froh und dankbar, gerade überhaupt spielen zu können – und das umso lieber in dieser besonderen Atmosphäre unserer Kathedrale. Und die Leute wiederum freuen sich über einen ganz außergewöhnlichen Kunstgenuss.
DOMRADIO.DE: Sammeln Sie solche erfreulichen Erfahrungen auch außerhalb Ihres beruflichen Arbeitsfeldes?
Metternich: Bei allem Leid, bei allen Sorgen und Nöten, die diese Krise primär mit sich gebracht hat, war es auch in gewisser Weise faszinierend, wie eine ganze Welt mit einem Mal den Betrieb einstellt und das wiederum unmittelbare Auswirkungen auf die Umgebung, die Umwelt, hat. Zu den Gottesdiensten im Dom herrschte am Anfang totale Ruhe. Man hörte nicht einmal die Züge des benachbarten Hauptbahnhofs und deren übliches Quietschen auf den Gleisen. Ich persönlich habe die Natur in diesen Wochen, die ja auch die Wochen des Frühlingserwachens sind, ohne den üblichen optischen und akustischen Smog in der Konzentration von Stille, aber auch von Farben und Licht viel intensiver wahrgenommen. Wie gut tut das doch, wenn die Welt eine Verschnaufpause bekommt!
DOMRADIO.DE: Die Corona-Pandemie mit allen ihren Auswirkungen auf fast jeden Lebensbereich ist eine für die Welt bislang einmalige Erfahrung. Viele Kulturschaffende leiden unter dem Stillstand und fürchten um ihre Existenz. Aber auch unabhängig von diesem wirtschaftlichen Aspekt: Ist Kultur systemrelevant?
Metternich: Kultur ist das, was über das Überlebensnotwendige hinausgeht und unser Leben auch sonst noch in seinem Kern ausmacht, wenn das nackte Überleben gesichert ist. Wenn Kultur nicht stattfinden kann – wie jetzt während der Krise – spürt man, was alles an vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten fehlt und wie einseitig das Leben wird, wenn man es nur noch von einem Monitor aus wahrnehmen kann. Kultur gehört zum Menschsein. Sonst würden wir diesen Planeten nicht ordnen können. Mit Kultur haben wir die Möglichkeit, nicht nur unser Dasein zu sichern, sondern es auch maßgeblich zu gestalten. Dazu gehören letztlich auch Glaube und Religion, die die Sinnhaftigkeit des Lebens fördern können. Ja, Kultur ist systemrelevant und nicht nur das Sahnehäubchen in unserem Leben.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti