DOMRADIO.DE: Sie feiern an diesem Sonntag Jubiläum. Ihren Lehrstuhl, an dem die Zoologie und die Theologie zusammenfallen, gibt es mittlerweile seit zehn Jahren. Hat sich im Bewusstsein hinsichtlich der Tiere etwas getan?
Rainer Hagencord (Leiter des Instituts für Theologische Zoologie in Münster): Es ist eine sehr ambivalente Erfahrung, die ich jetzt in den letzten zehn Jahren mache. Das geht ja nicht nur mir so. Das zeigt sich ja just in diesen Tagen, in denen in Madrid die Klimakonferenz tagt. Alle Beobachter, die nicht politisch unterwegs sind, sondern zu Umweltschutzverbänden gehören, meinen, dass dort nicht der große Wurf passiert. Gleichzeitig werden die Aktivitäten von Fridays for Future immer größer.
Es gibt diese Ambivalenz. Auf der einen Seite ist eine sehr bürgerliche Gesellschaft und auch die Kirche, die immer noch auf Veränderung der Technik hofft oder womöglich vieles ausblendet. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr junge Menschen. Ich erlebe das in Lehrveranstaltungen, auch mit Schülern und Schülerinnen. Dort gibt es ein großes Potenzial von Widerstand und Hoffnung, dass alles doch noch einmal gut geht.
DOMRADIO.DE: Bislang ist das theologisch-zoologische Institut dieser Art das einzige auf der ganzen Welt. Was macht es aus und Ihre Arbeit so wichtig?
Hagencord: Ich glaube, dass es einmal der interdisziplinäre und weiterhin auch der interreligiöse Zugang zu diesem Thema ist, den wir in den letzten zehn Jahren sehr profiliert vorangetrieben haben. Ich kann das auch an einem sehr starken Ereignis festmachen. Es ist ein Projekt im Nationalpark Eifel, was vor einem Jahr abgeschlossen wurde. Da hat das Institut zusammen mit der Nationalparkseelsorge, der Fachdidaktik der Biologie der Universität Bonn und mit einer jüdischen und muslimischen Theologin einen interreligiösen und transdisziplinär begründeten Natur- und Umweltschutz entwickelt. Dazu wurde ein ganz dickes Buch mit ganz vielen Materialien und auch theologischen Erörterungen und naturwissenschaftlicher Expertise veröffentlicht. In diesem Projekt, das wir Schöpfungserfahrung nennen, hat sich unsere ganze Arbeit letztlich kulminiert. Das ist das eine, auf das ich gerne hinweisen möchte.
Das andere ist, dass wir als Institut jetzt seit drei Jahren auch einen Ort haben. Wir sind angebunden an ein Bildungshaus, das Haus Mariengrund in Münster-Gievenbeck. Wir haben das Glück, dass wir hier Esel halten, mit einem Imker zusammenarbeiten und eben die Infrastruktur des Hauses nutzen können, sodass auch alle Lehrveranstaltungen hier stattfinden können. Wir bemühen uns tatsächlich, eine erfahrungsgesättigte Lehre auf den Weg zu bringen. Studierende kommen zu uns, können sich auf die Esel einlassen und erfahren vieles über die Bienen und die ökologische Vielfalt. Man kann ganz anders über Tiere, Natur und uns in dieser besonderen Rolle des Naturschutzes erfahren und vertiefen.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie die Schnittstelle zwischen dem Glauben und der Tierwelt?
Hagencord: Diese Schnittstelle finde ich schon auf den ersten Seiten der Bibel. Ich habe in den letzten zehn Jahren die Bibel mit ganz anderen und neuen Augen gelesen. Das heißt mit der Frage: Wo und in welcher Weise kommen Tiere vor? Da entdecke ich eine Goldader in der Bibel. Ich werde ja schon auf den ersten Seiten fündig und zwar, dass die Tiere mit den Menschen am sechsten Tag geschaffen sind, also der Mensch noch nicht mal einen eigenen Schöpfungstag hat. Die viel gepriesene Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Sabbat. Das ist der Tag, an dem Mensch und Tier in Frieden leben. Die zweite Schöpfungserzählungen ist ja, dass Adam, bevor er seine Eva trifft, erst mal die Tiere benennen soll. Thomas von Aquin sagt, Adam, der Mensch, braucht ein Erfahrungswissen über die Naturen der Tiere.
Das heißt, wir haben hier sehr deutliche Hinweise auf eine Theologie und Spiritualität, die inmitten der natürlichen Mitwelt im Miteinander von Mensch und Tier und Tier und Pflanzen die göttliche Wirklichkeit erfahren und spüren kann. Ich glaube, dass die Entdeckung der Tiere und Pflanzen in unserem ganzen Kosmos der Spiritualität so etwas wie ein zweiter Lungenflügel ist, der der herkömmlichen Theologie und Spiritualität ein bisschen abhandengekommen ist. Wir haben auf der einen Seite den Lungenflügel von kirchlicher Gemeinschaft und sakramentalem Erleben und auf der anderen Seite die Natur als Offenbarungsort. Beide Lungenflügel brauchen einander. Der Kirche wird es – glaube ich – sehr gut tun, auch in der Spur von "Laudato si" diesen zweiten Lungenflügel Gott inmitten der Natur zu entdecken und wieder neu durchbluten zu lassen.
DOMRADIO.DE: Wie hält die Kirche es denn mit dem Umweltschutz? Kommt sie voran?
Hagencord: Wenn man auf der einen Seite die Enzyklika "Laudato si" liest, das ist ja nun mal das höchste lehramtliche Schreiben, das die katholische Kirche zu bieten hat, dann ist das ein Meilenstein in der Schöpfungstheologie. Wenn ich dann schaue, wie diese Enzyklika umgesetzt wird, ist da noch viel Luft nach oben. Ich weiß, dass die Länder des globalen Südens natürlich die Opfer einer verfehlten Schöpfungstheologie oder eines kapitalistischen Raubbaus sind, die von den Industrienationen ausgehen. Dort, wie wir auch bei der Amazonas-Synode gesehen haben, wird diese Enzyklika umgesetzt. Es wird eine Agenda entwickelt und sehr deutlich auf einen veränderten Lebensstil hingewiesen, den die Kirche vorantreibt. In Europa ist da noch viel zu wenig passiert.
DOMRADIO.DE: Also haben sich die letzten vier Jahre – was die Umwelt-Enzyklika vom Papst betrifft – noch nicht so richtig gelohnt?
Hagencord: Ich würde das noch mal zuspitzen und sagen, wenn hier nicht bald etwas passiert, dann ist es letztlich sogar ein Verrat am Evangelium. Der Papst erwartet und fordert in seiner Enzyklika vom Evangelium her und von einer christlichen Spiritualität her – zugleich von naturwissenschaftlicher Expertise – einen völligen Bewusstseinswandel oder kirchlich gesprochen eine Umkehr. Eine ökologische Spiritualität, wie der Papst sie nennt, ist jetzt dringend dran.
Ich möchte nochmal an die Möglichkeiten erinnern, die eine Kirche oder die Kirchen hier in Deutschland haben. An wen verpachten wir eigentlich als Kirche unsere Länder? Kann man nicht so was sagen wie, keine Tierfabriken mehr auf Kirchenland? Was ist mit all den Landwirten und Landwirtinnen, die ökologisch oder nachhaltig arbeiten und von einer klassischen zu einer nachhaltigen Tierhaltung umstellen? Wo sind die kirchlichen Kantinen, die sagen, wir garantieren euch die Abnahme des Fleisches? Ebenso im ganzen Feld der Bildung: wo kommt das Thema vor – im Religionsunterricht, in der Erstkommunion und Firmkatechese? Ich vermisse das noch, das hier eine Agenda entwickelt wird, in der es darum geht: Wie machen wir uns als Kirche glaubwürdiger, und wie machen wir ernst mit dieser Enzyklika?
DOMRADIO.DE: Was kann denn jeder selbst als Verbraucher tun? Sind wir als Christen anders oder besonders gefragt?
Hagencord: Es fängt schon beim Fleisch an, lassen Sie es uns daran festmachen. Es ging mir im Sommer noch einmal sehr unter die Haut, denn der Amazonas hat noch nie so gebrannt wie in diesem Sommer. Der einzige Grund, warum der Amazonas brennt, ist unser Fleischkonsum. Entweder wird der Regenwald abgebrannt, um dort Rinderherden grasen zu lassen oder um Soja anzubauen. Das Soja geht dann zu 98 Prozent in die Tiermast in Europa und den Vereinigten Staaten. Wenn wir hier die Lunge unseres Planeten weiterhin mit Sauerstoff versorgen wollen und uns damit auch, dann sollten wir mal anfangen und unsere Ernährung umstellen.
Es braucht eine politisch wirksame Kirche, die sich in die sehr konkreten Fragen einmischt. Es braucht schon auch sehr deutliche Zeichen und auch eine andere Lebenspraxis, die in den Gemeinden gelebt werden kann. Was wir hier in Münster auch tun, ist eben keine Katastrophen-Pädagogik. Natürlich ist es auch wichtig zu wissen, was im Regenwald und in den Schlachthöfen passiert. Aber ich glaube, dass Umkehr nur passiert, wenn wir neue Lebensfreude entwickeln. Die Lebensfreude entwickelt sich aus einer Einfachheit, einer Schlichtheit und einer Wachsamkeit für das Kleine und das, was wachsen will – bei Menschen, Pflanzen und Tieren. Dafür müssen wir uns neu sensibilisieren.
DOMRADIO.DE: Wünschen Sie sich mehr Institute nach dem Vorbild von ihrem in Münster?
Hagencord: Es muss ja nicht diese Form haben. Ich glaube tatsächlich, dass eine Art, wie wir das hier tun, vielleicht auch exemplarisch ist für das, was eigentlich in allen Gemeinden passieren kann. In jeder Gemeinde gibt es engagierte Christen, die auch in Naturschutzverbänden unterwegs sind. Es gibt Biologielehrer, es gibt in den Synagogen oder auch in den Moscheen vor Ort Menschen, die sich das Thema auf die Fahnen geschrieben haben. Warum nicht in jeder Gemeinde so ein kleines Institut für theologische Zoologie?
Das Interview führte Katharina Geiger.