Vor 25 Jahren endete in Südafrika die Apartheid. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Kapstadts Erzbischof, Stephen Brislin, über die Wahl, die Nelson Mandela zum Präsidenten machte, die gravierenden sozialen Unterschiede im Land und die Zukunft des regierenden Afrikanischen Nationalkongresses (ANC).
KNA: Herr Erzbischof, Ende April nähert sich zum 25. Mal der Jahrestag der ersten demokratischen Wahlen. Doch jeder zweite Südafrikaner gilt als arm, jeder vierte hat keinen Job. Gibt es da wirklich etwas zu feiern?
Brislin: Durchaus! Trotz der vielen Herausforderungen, vor denen wir in Südafrika stehen, dürfen wir nicht vergessen, was wir bereits erreicht haben. Man muss sich die Angst vorstellen, in der die Bevölkerung lebte, wie die Menschen behandelt wurden und wie man ihnen ihre Menschenwürde absprach. Ging ich neben einem Schwarzen, sahen uns die Leute schief an. Heute hat Südafrika eine robuste Demokratie und ist das freieste Land Afrikas. Es herrscht Versammlungs-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit. Und das müssen wir feiern - es ist nicht alles ein Desaster.
KNA: Vielen Südafrikanern mag es heute besser gehen, aber hätte man in 25 Jahren nicht mehr erreichen können?
Brislin: Natürlich, vor allem, was das Fehlen wirtschaftlicher Chancen und die Armut angeht. Wir haben heute politische, aber noch keine wirtschaftliche Freiheit - einige wenige ausgenommen. Wann immer ich mit dem Flugzeug nach Kapstadt fliege und die Hütten der Townships sehe, denke ich mir: Tragisch, dass wir die Armut als gegeben akzeptieren, dabei sollte uns doch schockieren, wie die Menschen leben. Vieles hat uns in den vergangenen 25 Jahren zurückgeworfen, etwa Korruption. Auch Südafrikas Wahrheits- und Versöhnungskommission hätte mehr zustande bringen können. Sie hat zwar einen politischen Weg vorwärts gefunden, doch auf Wiedergutmachung oder einen Ausgleich der historischen Ungerechtigkeit warten die Betroffenen bis heute.
KNA: Wie hilft die katholische Kirche, die tiefe Lücke zwischen Arm und Reich zu füllen?
Brislin: Wir arbeiten in vielen Bereichen, am wichtigsten sind die vielen katholischen Ausbildungsstätten im ganzen Land. Südafrikas Arbeitslosigkeit ist inakzeptabel hoch. Bringt man Jugendlichen eine Industrie näher, Gastronomie oder Hotellerie, oder ein Handwerk wie Klempnerei - so klein ihre Erfahrung darin auch sein mag, ihre Chancen am Arbeitsmarkt steigen dadurch maßgeblich.
KNA: Der ANC kam als Bewegung der Armen und Unterdrückten an die Macht. Repräsentiert Mandelas Partei immer noch die Mehrheit der Südafrikaner?
Brislin: Ja, das tut sie und das werden die Wahlen am 8. Mai vermutlich auch widerspiegeln. Weil der ANC in seinen Idealen eine gute Partei ist, blickt man etwa auf die Unvoreingenommenheit gegenüber Ethnie oder Geschlecht. Er hat tiefe Wurzeln in jeder einzelnen Gemeinde und scheint mir die einzige Partei, die arme Südafrikaner als glaubwürdig betrachten. Auf der anderen Seite herrscht Ernüchterung und viele werden den ANC bloß mangels Alternativen wählen.
KNA: 2018 kam es in Südafrika zu einem Machtwechsel. Viele sehen in der Wahl von Präsident Cyril Ramaphosa die Rückkehr in die Rechtsstaatlichkeit. Sie auch?
Brislin: Unter Ex-Präsident Zuma gingen wir durch eine schreckliche Zeit. Man musste sich fast dafür schämen, Südafrikaner zu sein. Die ganze Welt wunderte sich, wie man einen solchen Staatschef so lange im Amt halten kann. Heute sind wir wieder eine angesehene Stimme in Afrika und der Welt. Ramaphosa ist ein intelligenter Mann und bietet zu einem gewissen Grad eine Vision.
KNA: Zwei Jahrzehnte nach der Apartheid kam es in Südafrika zuletzt wieder zu rassistischen Vorfällen. Waren das Einzelfälle oder ist Hautfarbe immer noch ein so großes Thema?
Brislin: Rassismus und Volkszugehörigkeit spielen nach wie vor eine große Rolle. Die Gefühle um dieses Thema gehen sehr tief; sie haben die Persönlichkeit der Menschen geprägt, die während der Apartheid aufwuchsen. Zugleich versuchen viele, dieses Muster abzulegen. Der gute Wille ist da. Aber bei Gesprächen, etwa wenn die Familie abends am Esstisch sitzt, merkt man, dass Südafrikas Gesellschaft immer noch in Ethnien denkt.
Rassismus kommt zum Vorschein, wenn die Leute Stress empfinden - und der wird in Südafrika etwa durch eine bröckelnde Wirtschaft und fehlende Zukunftschancen aufgebaut. Doch auch das wird sich ändern, eine neue Generation ist schon auf dem Vormarsch. Ich schätze, dass es etwa noch 20 Jahre dauert, bis wir endgültig darüber hinwegkommen.