Kirche war für Claudia Mönius ein Zuhause: Als junges Mädchen war sie Messdienerin, in ihrer Gemeinde hatte sie ihre Freunde und leitete Jugendgruppen. Und vom Pfarrer bekam sie die Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ihr zu Hause so sehr fehlten: Ihr Vater war alleinerziehend, aus einer kriegstraumatisierten Generation: Er tat, was er konnte, materiell mangelte es an nichts, "aber emotional war er nicht präsent", schreibt sie später.
Darum ging sie gerne in die Gemeinde, der Pfarrer strahlte, wenn sie kam und begrüßte sie mit offenen Armen. "Er gab mir das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein", erzählt sie heute. Gewalt sei nicht im Spiel gewesen. Aber wenn ein 50-jähriger Mann bei einer 11-Jährigen die Sehnsucht nach Nähe für seine sexuellen Übergriffe ausnutzt und ihr einredet, mit ihm käme sie Christus näher, ist das auch eine Form der Gewalt und Missbrauch von Macht und Abhängigkeit.
Niemand hörte zu
Er sagte ihr Dinge wie: "Ich bin doch nur die Tür", in Anlehnung an das Johannes-Evangelium. "Und ich weiß noch, dass ich dachte: Mensch, vielleicht ist er ja Jesus, und ich so nah dran. Wer bin ich, wenn ich da so nah dran sein darf?" Zwar spürte die 11-Jährige damals instinktiv, dass das alles irgendwie nicht richtig war. Aber sie kam aus einer streng katholischen Familie. "Da kommt man nicht auf die Idee, dass er Unrechtes tut. Und ich hätte mit niemandem in der Familie darüber sprechen können."
Mit 13 oder 14 offenbarte sie sich schließlich einem anderen Priester bei der Beichte. "Ich war einerseits verliebt in den Pfarrer, andererseits verwirrt. Ich habe das alles nicht verstanden." Die Beichte wurde zum Hilferuf. Doch anstatt ihr zuzuhören und einzugreifen, wies er sie zurecht und schickte sie aus dem Beichtzimmer mit dem Hinweis, dass das ein Ort für Reue und Buße sei und nicht für schlechte Scherze.
Schweigen aus Angst
"Eine schreckliche Erfahrung", erzählt sie heute, "weil man anfängt, an sich und der eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Und man denkt, man sei selbst irgendwie falsch". Danach schwieg sie fast 30 Jahre, aus Angst, man würde ihr wieder nicht glauben.
Erst 2010, als der Jesuitenpater Klaus Mertes die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg öffentlich machte und damit eine breite Diskussion um Missbrauch in der katholischen Kirche lostrat, konnte sie das erste Mal in ihrer Therapie darüber sprechen. Danach zeigte sie den Pfarrer beim Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Bamberg an.
Halbherzige Aufarbeitung
Die Taten waren schon verjährt – aber man glaubte ihr. Immerhin. "Aber da ist auch vieles schräg gelaufen", erinnert sie sich. "Da wurde ein Gremium zusammengestellt aus Personen, die alle aus dem Dunstkreis meiner Heimatpfarrei stammten." Plötzlich saß sie einem pensionierten Juristen gegenüber, der die Befragung übernahm. Als Ministrantin hatte sie ihm das Opferkörbchen hingehalten. "Das war absolut unprofessionell", sagt sie.
In einem außergerichtlichen Verfahren verpflichtete sich der Pfarrer zu einer Zahlung von 20.000 Euro. Für Claudia Mönius keine zufriedenstellende Lösung: "Meine Mindestforderung an die Kirche wäre, dass die Täter nicht nur in den Laienstand versetzt, sondern exkommuniziert werden." Tatsächlich sah das Kirchenrecht bis 1917 eine solche Strafe vor – bis der Passus gestrichen wurde.
Der Priester, der Claudia Mönius über Jahre hinweg missbraucht hatte, bekam ein Zelebrationsverbot auferlegt, das aber niemand so recht zu kontrollieren schien. Wenige Jahre später fand sie in einem Pfarrbrief ein Bild von ihm im liturgischen Gewand; zwei kleine Mädchen überreichten ihm eine Blume und eine Kerze zum 85. Geburtstag. "Da packt mich so eine Wut. Es wird permanent behauptet, die wären an einer schonungslosen Aufklärung interessiert. Doch diese unsägliche katholische Kirche tut nichts. Es ist so verlogen!"
Die Vergangenheit ist nie vorbei
Heute arbeitet Claudia Mönius als Coach und Seelsorgerin, sie gründete die "Mutmacherei", die Menschen bei ihren persönlichen Entwicklungsschritten begleitet. Ihre Erfahrungen verarbeitet sie in Büchern, sie schreibt über moderne Spiritualität. Viele Jahre Therapie haben ihr selbst dabei geholfen, dass die Wunden von damals heilen konnten, "aber es ist nie vorbei", sagt sie, "damit kann man nicht abschließen." Immer wieder gibt es Trigger: Wenn sie an dem alten Pfarrhaus vorbeifährt oder das Rasierwasser riecht, das der Täter verwendete. Dann fällt sie zurück in die Zeit von damals. Sie hat gelernt, damit zu leben.
Ihren Glauben hat sie nicht verloren. Sie hat gehadert, ist aus der Kirche aus- und wieder eingetreten. Sie beteiligte sich im Bistum Limburg an dem Projekt "Betroffene hören – Missbrauch verhindern", weil sie etwas verändern wollte. Doch sie kam zu dem Eindruck: Ein ernsthaftes Interesse an dem, was Betroffene zu sagen hatten, schien es nicht zu geben. Am Ende stieg sie aus, bitter enttäuscht über die Erkenntnis, dass es zwar dort zwar Menschen gibt, die zur Aufarbeitung entschlossen waren, aber in den Strukturen und der Bürokratie strauchelten.
Und die wirklich heiklen Themen wie der Pflichtzölibat, die Sexualität der Priester oder Machtstrukturen in der Kirche seien niemals ernsthaft angesprochen worden, sagt sie. Am Ende habe sie sich als Betroffene wie ein Feigenblatt gefühlt.
Kirche versus Glauben?
Kirche und Glaube sind für sie heute zwei Paar Schuhe: Sie lebe einen intensiven Glauben, sagt sie: "Ich orientiere mich stark an Jesus, ich bin regelrecht begeistert von ihm. Und wenn wir uns in unserer Gesellschaft ein bisschen mehr daran orientieren würden, wie er gelebt hat und was er uns vermitteln wollte, wäre vieles besser."
Aber dass Kirche sich noch mal ändert – diese Hoffnung hat sie nicht mehr. Kirche ist für sie keine Heimat mehr. Ende letzten Jahres ist sie ausgetreten.