EU-Kommission beklagt Mängel in der Türkei

Reformeifer ohne Elan

 (DR)

Die EU-Kommission hat der Türkei wie erwartet Mängel bei den Menschenrechten vorgeworfen. Der Reformeifer habe sich verlangsamt, beklagt die EU-Kommission in ihrem am Mittwoch in Brüssel veröffentlichten jährlichen Fortschrittsbericht. Eine Empfehlung, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen, enthält das Dokument nicht. Dazu will sich die Kommission erst vor dem Dezember-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs äußern. CDU- und CSU-Europaabgeordnete forderten dagegen einen sofortigen Stopp der Verhandlungen. Der Bundestagsabgeordnete Johannes Singhammertell vom Kardinal-Höffner-Kreis fordert domradio-Interview: Keine Religionsfreiheit - kein EU-Beitritt.

"Stillstandsbericht"
Der christlich orientierte Kardinal-Höffner-Kreis ist ein Zusammenschluss von Abgeordneten der CDU/CSU und von Unternehmern, Wissenschaftlern und Journalisten.
Der Vorwurf: Der am Mittwoch von der EU-Kommission veröffentlichte sogenannte Fortschrittsbericht sei "ein dokumentierter Stillstandsbericht, wenn nicht gar ein Rückschrittsbericht". Die Europäische Union gründe auf einer gemeinsamen Wertegemeinschaft und der Tradition der Meinungs- und Religionsfreiheit. Erst wenn der Bau christlicher Kirchen in der Türkei unter den gleichen Bedingungen stattfinden könne wie der Moscheenbau in Deutschland, könne von einer echten Religionsfreiheit und einer "gemeinsamen Basis für ein europäisches Haus gesprochen werden."

Fehlende Religionsfreiheit
Die Brüsseler Behörde kritisiert unter anderem einen weiter großen politischen Einfluss des Militärs, Korruption, Missachtung der Meinungsfreiheit und fehlende Rechte für nichtmuslimische religiöse Gemeinschaften. Bemängelt werden ferner fehlende oder nicht ausreichende Rechte für Gewerkschaften, Frauen, Kinder und die kurdische Minderheit. Roma würden diskriminiert.

Die EU-Kommission kritisiert zudem, dass Ankara zyprischen Schiffen und Flugzeugen weiter den Zugang zu seinen Häfen und Flughäfen verweigert. Weniger als in den Vorjahren sei dagegen über Folter und Misshandlungen berichtet worden. Allerdings gebe die Lage noch immer Anlass zur Besorgnis. Auch bei der
Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit seien weniger Einschränkungen als in der Vergangenheit verzeichnet worden.

Keine Rechtspersönlichkeit für Religionsgemeinschaften
Bei der Religionsfreiheit gab es laut Bericht keine Fortschritte, um die Schwierigkeiten nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften zu bewältigen. Gottesdienste könnten zwar im Allgemeinen ohne Probleme gehalten werden. Jedoch hätten die Gemeinschaften weiter keine Möglichkeit, einen eigenen Rechtsstatus zu erhalten. Auch die Möglichkeit zum Erwerb von Grundbesitz bleibe eingeschränkt.

Probleme sieht die EU-Kommission auch bei der Rückgabe enteigneten Eigentums nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften und bei der Ausbildung ihrer Geistlichen. Ausländische Geistliche hätten Probleme, Arbeitserlaubnisse zu erhalten. Zudem gebe es Berichte über Übergriffe gegen nichtmuslimische Geistliche und Gotteshäuser.

Die EU bemängelt, dass dem griechisch-orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel in öffentliche Verwendung seines Titels "Ökumenischer Patriarch" als Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie weiter untersagt sei. Keine Fortschritte sieht die Brüsseler Behörde auch im Verhältnis zu den Aleviten. Sie würden weiter diskriminiert.

Auch Mängel bei der Meinungsfreiheit
Ernste Besorgnis äußert die Kommission zur Meinungsfreiheit in der Türkei. Das gelte besonders für den Strafrechtsparagrafen 301, der die Verunglimpfung des Türkentums unter Strafe stellt.
Journalisten, Schriftsteller, Akademiker und Menschenrechtler seien unter Berufung darauf juristisch verfolgt worden. Der Paragraf müsse "mit europäischen Standards in Einklang gebracht" werden, fordert der EU-Bericht. Derzeit werde die Meinungsfreiheit noch nicht von einem Gesetzesrahmen auf europäischem Niveau geschützt, auch wenn mehr offene Debatten geführt würden als in der Vergangenheit.

Rehn: EU-Reform vor weiteren Beitritten nötig
EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sagte, die Türkei habe ihre Reformen zwar fortgesetzt, aber deutlich langsamer. Weitere Anstrengungen seien nötig, vor allem bei der Meinungsfreiheit und anderen Grundfreiheiten. Ausdrücklich verlangte Rehn, vor dem Beitritt weiterer Mitgliedstaaten müsse die Reform der EU-Institutionen abgeschlossen sein. Die EU-Kommission habe davon abgesehen, jetzt schon Empfehlungen zu Fortsetzung oder Aussetzung der Verhandlungen zu geben, weil derzeit noch Verhandlungen über die Zypern-Frage im Gang seien.

Unterschiedliche Reaktionen
Bei EU-Politikern stieß der Bericht auf ein unterschiedliches Echo. CDU- und CSU-Abgeordnete forderten eine sofortige Aussetzung der Verhandlungen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments, Elmar Brok (CDU), bemängelte, der Bericht benenne zwar die bekannten Defizite, ziehe daraus aber keine Konsequenzen. Auch die FDP-Abgeordneten Alexander Graf Lambsdorff und Silvana Koch-Mehrin warnten, die Türkei riskiere den Abbruch der Verhandlungen, wenn sich ihre Politik nicht ändere.

Die SPD-Europaparlamentarier Mechtild Rothe und Vural Öger sprachen dagegen von berechtigter, aber auch ausgewogener Kritik. Die Türkei habe klare Zeichen gegeben, dass es ihr mit den Reformen ernst sei. Der grüne Abgeordnete Cem Özdemir sagte, in der Zypern-Frage müssten sich beide Seiten bewegen. Bei der Meinungs- und Religionsfreiheit müsse sich die Türkei allerdings den Vorwurf mangelnden Reformeifers gefallen lassen.