KNA: Herr Burg, bereits im Jahr 2007 sagten Sie, Israel als jüdischen Staat zu definieren, sei der Anfang vom Ende. Hat das Ende also angefangen?
Avraham Burg: Wir leben in einer globalisierten Welt. Jede lokale Entwicklung spiegelt einen größeren globalen Zusammenhang wider. Wir können in der westlichen Welt wieder eine Tendenz zum Nationalismus feststellen. Unsere offene inklusive Gesellschaft entwickelt sich sukzessive zu einem Stammessystem zurück, in dem ethnische Abgrenzung bestimmend ist. Aus Deutschland hört man "Deutschland den Deutschen", und auch die Politik von US-Präsident Donald Trump ist ein Ausdruck dafür, dass die Menschen unter ihresgleichen leben wollen. Die eigene Unsicherheit manifestiert sich dabei in Protektionismus, Abschottung und Populismus.
KNA: Was macht das Gesetz besonders?
Burg: Die Verbindung von nationalistischer und religiöser Motivation. In rein demokratischen Staaten gibt es nur eine Autoritätsinstanz: den einzelnen Menschen. Israel definiert sich hingegen als demokratisch und jüdisch. Die Verantwortung des Staates wird in die Hände von Personen und Institutionen gelegt, die nicht voll und ganz der menschlichen Autorität, sondern der göttlichen Quelle der Autorität verpflichtet sind. Wer sagt "demokratisch und jüdisch" sagt gleichzeitig: "Demokratie und Theokratie". In einem Land darf es aber ganz einfach nicht zwei Autoritätsquellen geben. In Israel gibt es nicht nur keine Trennung zwischen Religion und Staat, viele sehen den Staat sogar als gottgegeben an. Damit wird Religion zu einem Identitätsmarker, der Ausgrenzung und Ungleichbehandlung den Weg ebnet.
KNA: Welche konkreten Auswirkungen wird das Gesetz Ihrer Ansicht nach haben?
Burg: Das Gesetz an sich ist schwach. Die Atmosphäre jedoch ist brandgefährlich. Man kann aus dem Gesetz keine direkten praktischen Konsequenzen ziehen. Die Rhetorik bewirkt aber eine Spaltung der Gesellschaft und fördert das Überlegenheitsgefühl gegenüber Minderheiten, vor allem gegenüber der arabischen Minderheit. Fakt ist, dass das Gesetz rassistisch ist. Es geht darum, die jüdische Vorherrschaft im Land zu sichern. Was die praktischen Folgen angeht? Warten wir auf eine erste Entscheidung des Obersten Gerichts.
KNA: Drusische Knesset-Mitglieder haben dort bereits Protest eingelegt. Kann dieses Unterfangen erfolgreich sein?
Burg: Dass speziell die Drusen klagen, ist sehr interessant. Sie gelten eigentlich als loyale Staatsbürger, leisten Wehrdienst und sind im Parlament vertreten. An diesem Fall zeigt sich die Ungerechtigkeit des Gesetzes. Wer ist Teil der Gesellschaft? Genügt Treue dem Staat gegenüber? Scheinbar nicht. Das Gesetz ist unfair und verdeutlicht wieder einmal, auf welche Weise sich der rechte Flügel als Antagonist zu Linken und Arabern aufspielt.
KNA: Welchen Einfluss wird das Gesetz auf den Friedensprozess, auf eine Zwei-Staaten-Lösung haben?
Burg: Die Zwei-Staaten-Lösung ist vom Tisch. Sie ruht, und sie wird auch die nächsten hundert Jahre ruhen, weil es auf beiden Seiten keine Motivation mehr gibt und die jeweiligen Anführer nicht bereit sind, aufeinander zuzugehen. Wenn nun, rein hypothetisch, morgen eine unglaubliche Möglichkeit bestünde, eine Lösung herbeizuführen, auf die sich alle einigen könnten - das Nationalitätengesetz wäre keine Hürde. Die Zwei-Staaten-Lösung ist in weite Ferne gerückt. Das Gesetz ist dabei meine geringste Sorge.
KNA: In ihrem Buch "Hitler besiegen - Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss" beschreiben Sie, wie das Trauma des Holocaust die israelische Identität bis heute bestimmt. Ist das Nationalitätengesetz eine Manifestation dieses Traumas?
Burg: Eine direkte Verbindung zum genannten Trauma sehe ich nicht. Das Gesetz ist jedoch ein weiterer Ausdruck der israelischen Selbstisolation. Es ist eine Provokation, die die westliche Welt nicht ohne Kommentar hinnimmt und verständlicherweise protestiert. Dann können wir wiederum sagen, die Welt sei gegen uns, und wir bräuchten solch ein Gesetz. Wir sind Experten darin, diesen Teufelskreis zu befeuern.
KNA: Sehen Sie eine andere Möglichkeit, Israel zu definieren?
Burg: Israel ist eine Demokratie. Das ist meine Definition. Eine Erneuerung des jüdischen politischen Lebens ist erforderlich, die sich gleichzeitig auf ihre aufklärerischen Wurzeln besinnt, wie sie beispielsweise nach 1948 hervortraten. Ein Staat, der allen, nicht nur den Juden gehört, klingt für mich nach einer optimalen Lösung.