DOMRADIO.DE: Was unterscheidet die Schiiten des Irans von anderen muslimischen Konfessionen?
Prof. Dr. Thomas Lemmen (Mitarbeiter des Referats Dialog und Verkündigung des Erzbistums Köln und Leiter des Studiengangs für interreligiöse Dialogkompetenz an der Katholischen Hochschule NRW): Es gibt im Islam zwei große Konfessionen oder auch Richtungen. Die Sunniten, die circa 90 Prozent der Musliminnen und Muslime weltweit ausmachen und die Schiiten, die circa 9 Prozent ausmachen. Im Iran und dem Irak, der auch das Ursprungsland ist, machen die Schiiten jedoch die Mehrheit aus. Größere Minderheiten der Schiiten finden sich im Libanon, Syrien, Saudi-Arabien, Afghanistan und anderen Ländern.
Die Unterschiede sind für uns von außen nicht einfach zu beschreiben und zu verstehen. Im Grunde ging es bei der Entstehung beider Konfessionen um die Frage, wer die islamische Community leiten soll. Bei den heutigen Sunniten sollte eine Person aus dem Umfeld des Propheten zum Kalifen gewählt werden. Für die Schiiten musste diese Person aus der Familie des Propheten stammen, zum Beispiel sein Cousin und Schwiegersohn Ali und dessen rechtmäßigen Nachkommen. Aus diesem Streit sind die beiden Hauptkonfessionen entstanden.
Wichtig ist außerdem zu verstehen, dass es die Schiiten nicht überall in der muslimischen Welt gibt, sondern sie sich vor allem in den genannten Regionen des Nahen Ostens konzentrieren. Das hat zur Folge, dass Muslime beispielsweise in Marokko oder in Indonesien wenig Berührungspunkte mit Schiiten haben. In Ländern wie dem Irak oder Libanon sind die Schiiten hingegen Teil der religiösen Pluralität.
DOMRADIO.DE: Ein großer Konfliktpunkt des Streites im Nahen Osten ist die Rolle von Jerusalem wegen seiner Heiligtümer. Welche Rolle spielt die Stadt und die dortigen Heiligtümer für die schiitischen Muslime?
Lemmen: Kanonisch gesehen gibt es für die Muslime nur eine heilige Stadt. Das ist Mekka, die Stadt, in der sich die Kaaba befindet. Deswegen ist sie das Ziel der Wallfahrt, die Muslime einmal im Leben vollziehen sollen, und der Ort, in dessen Richtung man sich beim Gebet wendet. Medina, die Stadt, in der der Prophet begraben liegt, ist auch eine wichtige Stadt, aber lange nicht so wichtig wie Mekka.
An dritter Stelle kommt Jerusalem, weil Mohammed von dort die sogenannte Himmelsreise des Propheten angetreten hat. Also Mohammed soll in einer Nacht mit einem Reittier namens Burak von Mekka nach Jerusalem gereist und von dort weiter in den Himmel gereist sein, wo er verschiedene Propheten getroffen hat und zu Gott geführt wurde. Diese Reise soll von der Stelle gestartet sein, wo heute der Felsendom steht.
Diese symbolische Bedeutung hat Jerusalem für alle Muslime, unabhängig von Richtung und Konfession. Muslime veranstalten keine Wallfahrt nach Jerusalem, auch nicht als Teil der Wallfahrt nach Mekka. Das ist kein vorgeschriebener Bestandteil.
DOMRADIO.DE: Kann man einen Unterschied zwischen politischer oder religiöser Bedeutung machen oder spielt das zusammen?
Lemmen: In einem System wie dem Iran lässt sich Religion und Politik schwer voneinander trennen, weil mit der Religion Politik gemacht wird und die Politik der Religion dient. Meines Erachtens ist es ein politischer Konflikt. Der Iran baut sich sozusagen als Kontrahent gegenüber dem Staat Israel und der westlichen Welt auf und will damit eine Führungsrolle innerhalb der islamischen Community, insbesondere der schiitischen Community in der Region übernehmen.
Die schiitischen Gemeinden veranstalten regelmäßige sogenannte al-Quds-Tage, an denen der Besatzung der heiligen Stätten aus iranischer Sicht gedacht wird. Das sind programmatische Veranstaltungen, in denen Propaganda gemacht wird und zur Befreiung der Stätten aufgerufen wird. Daher ist das ein Topos, der eine religiöse Konnotation hat, aber stark in diesem politischen Kampf eingebunden ist und dazu dient, die Führungsrolle des Irans in der Region zu legitimieren.
DOMRADIO.DE: Bisher galt Jerusalem als relativ sicher. Bei dem Angriff des Irans auf Israel flogen aber auch Raketen auf die Stadt. Nimmt der Iran damit die Gefährdung seiner eigenen Heiligtümer in Kauf?
Lemmen: Meines Erachtens zielten die Angriffe in erster Linie auf militärische und bisweilen auch zivile Einrichtungen des Staates Israel. Insgesamt gesehen ist dieser Staat das Hauptangriffsziel. Ob man die Raketen so genau steuern kann, weiß ich nicht. Vermutlich nimmt man Schäden in Kauf, denn ich glaube nicht, dass man gezielt und bewusst die eigenen Heiligtümer in den Blick nimmt. In Ostjerusalem wären dann auch sehr viele muslimische Zivilopfer zu beklagen.
DOMRADIO.DE: Auf der Seite des Irans stehen auch Organisationen wie die Hisbollah im Libanon oder die Huthi-Rebellen im Jemen. Wie sind die religiös einzuordnen?
Lemmen: In beiden Fällen handelt es sich um schiitische Gruppierungen. Die Hisbollah ist eine Miliz der Schiiten im Libanon. Die Huthi-Rebellen gehen auf die schiitische Minderheit in Jemen zurück, sind religiös allerdings anders ausgerichtet als die Schiiten im Libanon und im Iran.
Insgesamt kann man sagen, dass der Iran versucht, innerhalb der islamischen Welt und vor allen Dingen innerhalb der schiitischen Welt eine Führungsrolle anzunehmen. Damit tritt der Iran mit Saudi-Arabien in Konkurrenz, da Saudi-Arabien versucht, die Führungsrolle des sunnitischen Islam einzunehmen. Deswegen forciert der Iran gezielte Kooperationen und Bündnisse mit schiitischen Kräften in den verschiedenen Ländern der Region, zum Beispiel in Syrien.
Das Regime der Familie Assad wird von der schiitischen Minderheit der Alawiten gestützt, die in einer Region Syriens verbreitet sind. Die Alawiten hatten Führungspositionen in Luftwaffe und Armee inne als die Assads sich vor Jahrzehnten an die Macht geputscht hatten. Deshalb ist die Verbindung des Irans zu Syrien so eng. Vor diesem Hintergrund ist auch die Unterstützung des Irans für Syrien zu sehen. Im Grunde ist es der Versuch des Irans, die schiitischen Kräfte auf die eigene Seite zu bringen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.