DOMRADIO.DE: Orban inszeniert sich als Friedensbotschafter, und sucht das Gespräch mit Wladimir Putin, Xi Jinping und Wolodymyr Selenskyj. Was denken Sie darüber?
Dr. András Hettyey (Politikwissenschaftler an der Andrássy Universität Budapest): Oberflächlich gesehen kann man sagen, dass Dialog immer gut ist und und man den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen sollte. Aber das Problem ist, ob es überhaupt etwas zu verhandeln gibt? Will Putin verhandeln?
Orban verhandelt, um sagen zu können, dass er verhandelt hat. Verhandeln als Selbstzweck ist in der Politik etwas Seltsames. Das scheint mir nicht ehrlich zu sein. Vor allem, weil Putin schon bewiesen hat, dass er Verhandlungen immer als Schwäche ansieht. In seinem Denken, würde sich der Stärkere einfach nehmen was er will. Dementsprechend bin ich ziemlich kritisch gegenüber dieser angeblichen Friedenspolitik. Zumal Russland jeden Tag westliche Politiker anrufen könnte, um in einen ernst gemeinten Friedensdialog einzutreten.
DOMRADIO.DE: Was ist seine Motivation?
Er will sich als Friedenspolitiker inszenieren, weil es in der Fidesz-Wählerschaft populär ist. Ich leite das aus seiner Entfremdung vom Westen ab. Er ist persönlich entfremdet von den traditionellen Partnern Deutschland, USA, Frankreich und er macht das aus Trotz. Er möchte es allen zeigen. Das läuft so: "Je mehr ihr möchtet, das ich was Bestimmtes mache, desto weniger tue ich es."
DOMRADIO.DE: Er sagt, sein Hauptargument sind die vielen Menschenleben, die auf dem Spiel stehen. Kaufen Sie ihm das ab?
Hettyey: Ihm das nicht abzukaufen wäre ziemlich harsch. Natürlich ist das auch ein Faktor. Aber der Verantwortliche für diese Opferzahlen ist Putin. Solange die Ukraine entschieden hat, dass sie kämpfen möchte, müssen wir das respektieren. Das können wir nicht in Budapest, Berlin oder Washington entscheiden. Die Opfer sind natürlich tragisch. Aber wir können der Ukraine nicht das Recht absprechen diese Opfer zu bringen.
DOMRADIO.DE: Ungarn hat gerade den Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Wie bewerten Sie den Zeitpunkt dieser Friedensmission?
Hettyey: Er benutzt und genießt diese Öffentlichkeit. Er war immer ein Politiker der im Rampenlicht stehen wollte und der an keinem Mikrofon vorbeigehen kann. Er muss immer seinen Standpunkt vertreten, auch wenn das diplomatisch gerade nicht angebracht ist.
Er missbraucht diese Rolle. Die EU-Ratspräsidentschaft sollte eine vermittelnde Rolle zwischen den vielen Mitgliedsstaaten einnehmen, die mehr Kohäsion in die EU bringt. Er tut das Gegenteil und das ist für ihn ein gefundenes Fressen. Er kann nochmal mehr mit Öffentlichkeit und Publicity rechnen.
DOMRADIO.DE: Spielt die persönliche Psychologie bei Viktor Orban eine so große Rolle?
Hettyey: Auf jeden Fall. Ich höre immer wieder Erklärungen und Argumente, die ich nicht teile. Zum Beispiel, dass er Moskaus Agent oder Trojanisches Pferd wäre. Dafür habe ich noch keine Beweise gesehen. Ich höre auch immer das Totschlagsargument, dass er dies und jenes tut, weil er von seinen Wählern dazu getrieben wird russlandfreundlich zu sein.
Ich glaube aber, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Durch seine vielfältigen Medien-Kanäle kann er den ungarischen Bürgern eins zu eins vorgeben, was sie denken sollten. Der außenpolitische Entscheidungsprozess ist in Ungarn wahnsinnig einfach. Orban entscheidet.
DOMRADIO.DE: Es gibt niemanden der ihm Paroli bietet?
Hettyey: Wir haben keine Vetospieler wie Koalitionsparteien, keine unabhängige Presse oder starke Gewerkschaften. Die Kirche äußert sich quasi niemals kritisch. Es gibt niemanden, der seine Entscheidungen beeinflussen könnten. Deshalb hat er eine große Gestaltungsmacht. Umso wichtiger ist es, den persönlichen Faktor in die Analysen mit einzubeziehen.
DOMRADIO.DE: Orban sieht sich als Verteidiger von christlichen Werten in Europa. Für wie groß halten Sie den Einfluss von christlichen Werten in seinen Friedensbemühungen?
Hettyey: In christlichen Kreisen wird ihm zugute gehalten, dass er finanziell für die Kirche viel getan hat. In die Familienpolitik investiert er sehr großzügig, teilweise auch aus einer christlichen Ethik heraus.
Mein Problem mit seinem Standpunkt zum Krieg, ist, dass wir seit dem heiligen Augustinus das Konzept des gerechten Krieges kennen. Dementsprechend kritisiere ich Orbans Argument den Aspekt der Selbstverteidigung in den Hintergrund zu stellen und nur von den russischen und ukrainischen Opfern zu sprechen.
Ich habe ungarische Theologen gelesen, die gesagt haben, dass es unsere Pflicht ist, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, weil auf diese Weise wichtige christliche Werte aufrecht erhalten bleiben. Ein Selbstverteidigungskrieg ist immer ein gerechter Krieg.
Wenn wir das Prinzip der Selbstverteidigung in der Ukraine nicht schützen, schmälern wir diesen christlichen Wert und schaffen möglicherweise Räume für einen Präzedenzfall, den andere Staaten ausnutzen könnten. Deswegen steht für mich Orbans christlich angehauchte Kritik an der ukrainischen Kriegsführung auf sehr wackeligen Füßen.
DOMRADIO.DE: Sie sagten die Kirchen erheben ihre Stimmen nicht gegen Orban. Sehen Sie die Kirchen in der Pflicht das zu tun?
Hettyey: Ich muss mich da korrigieren. Die katholische Kirche tut das nicht. Andere Kirchen tun das schon. Wir haben eine sehr große calvinistische Kirche in Ungarn. Viktor Orban ist auch Calvinist. Die Calvinisten haben schon mehrmals eindeutige Kritik an Orban geübt.
Insgesamt müsste mehr Kritik von den Kirchen kommen, nicht nur wegen des Krieges. Auch wegen der Demokratie und der Pressefreiheit. Gerade als gläubiger Christ würde ich mir wünschen, dass sich die ungarische Bischofskonferenz dazu äußert und anspricht was hier nicht rundläuft und welche konkreten Probleme es gibt.
DOMRADIO.DE: Bekommt Orban denn Unterstützung von den Bischöfen und der katholischen Kirche?
Hettyey: Ja, eindeutig. Die römisch-katholische Kirche sympathisiert mit Fidesz, vor allem wegen der konservativen Familienpolitik und der großen Unterstützung. Viele Kirchen wurden vom Staat renoviert.
Ich fahre mit meiner Familie bald in ein christliches Zeltlager für Kinder und ihre Eltern, das von einem Fidesz-Ministerium unterstützt wurde. Die Kirche bekommt viel Geld für solche Zwecke. Das finde ich nicht schlecht. Aber deswegen sollte die Kirche nicht vergessen, dass sie auch in der Pflicht steht, den weltlichen Mächten die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus setzt in seinen Friedensbemühungen auch sehr auf den Dialog. Sehen Sie einen gemeinsamen Nenner zwischen Viktor Orban und Papst Franziskus?
Hettyey: Um das zu beurteilen kenne ich die Herangehensweise des Papstes nicht gut genug. Was aber in Ungarn große Wellen geschlagen hat - um ein bisschen zu widersprechen - war, dass vor ein paar Jahren Franziskus gesagt hat, dass man als Christ die Migration unterstützen müsse. Zumindest in diesem Punkt sind sie nicht auf einer Linie.
Wegen dieser Migrationsgeschichte wird Franziskus auch jetzt noch eher kritisch beäugt. Dieses Prinzip des Dialogs ist natürlich wichtig, andererseits muss man realpolitisch ganz klar sehen, dass Putin immer nur das Prinzip der Stärke verstanden hat. Wenn man was von Putin will, muss man Druck auf ihn ausüben. Dafür braucht es aber auch die Einheit des Westens. Deshalb sehe ich das insgesamt sehr kritisch mit Orbans Friedensdiplomatie.
DOMRADIO.DE: Die EU hat mit einem Ungarn-Boykott reagiert. Schwächt das den Einfluss Ungarns nicht noch mehr?
Hettyey: Dieser Boykott ist eingepreist. Orban ist nicht interessiert daran Politiker der Mainstream-Parteien für sich zu gewinnen. Die Adressaten seiner Außenpolitik sind nicht Scholz, Macron oder der Durchschnittseuropäer. Er zielt mit seiner Friedenspolitik auf die rechten Parteien ab.
Natürlich ist das Ansehen Ungarns dadurch sehr schlecht. Ungarn ist sehr isoliert in der Außenpolitik. Wir haben nur sehr wenige Partner. Seit in Polen die PiS die Wahlen verloren hatte, haben wir aktuell nur die Slowakei und Serbien. Wenn Trump zurückkommt wird sich das nochmal ein bisschen verändern. Aber was sehr schmerzhaft ist, ist, dass wir in Osteuropa so isoliert sind. Die sehr sympathischen baltischen Staaten, Polen oder Tschechien stehen uns wahnsinnig kritisch gegenüber. Das ist was Neues. Mit Deutschland und Frankreich hatten wir diese Reibereien schon vor 2022, aber zu Polen beispielsweise hatten wir immer gute Beziehungen, so wie auch zu Slowenien und Rumänien. Das wird sich in den nächsten Monaten nicht ändern und das weiß Orban auch selber.
Deswegen nutzt ihm diese Friedensdiplomatie, die ihm kurzfristig Öffentlichkeit bringt, langfristig wahrscheinlich wenig. Aber zumindest kann er die Agenda diktieren und vielleicht noch ein paar rechtsnationale Wähler im In- und Ausland ansprechen.
Das Interview führte Clemens Sarholz.