domradio.de: Hunderte Interessierte meldeten sich nach dem Facebook-Post bei der Vermittlungsstelle. Was halten Sie davon, Adoptiveltern in sozialen Netzwerken zu suchen?
Dr. Werner Kleine (Pastoralreferent in Wuppertal und Adoptivvater von zwei Kindern mit Down-Syndrom): Das ist natürlich eine ganz schwierige Sache, weil das den Eindruck erweckt, als wenn man einfach eine Anzeige schalten oder einen Aufruf bei Facebook starten könnte und sich dann Menschen melden, die sich ein Kind abholen. Um überhaupt ein Kind zu adoptieren, muss man zunächst einmal ein Adoptionsbewerberverfahren durchlaufen. Das dauert an sich schon zwölf bis 24 Monate, wobei verschiedene Dinge geklärt werden müssen. Dann bekommt man eine Art "Adoptionsschein", mit dem man sich dann an Jugendämter wenden kann.
Was dieser Aufruf soll und was man sich damit erhofft, ist mir völlig schleierhaft. Es hört sich - bei allem Respekt - ein bisschen wie "Tiere suchen ein Zuhause" an. Das geht natürlich an der Intention völlig vorbei.
domradio.de: Trotzdem kann man aber auch einen schönen Aspekt konstatieren. Hunderte Interessierte haben sich bei der Vermittlungsstelle gemeldet. Hätten Sie das so erwartet?
Kleine: Ja. Aus meiner eigenen Erfahrung als Adoptivvater und aus der Zeit, in der meine Frau und ich das Adoptionsbewerberverfahren durchlaufen haben, wissen wir, dass es Menschen gibt, die unbedingt ein Kind haben wollen. Diese sehnen sich sehr danach. Es ist so, dass manche Kinder als schwer vermittelbar gelten. Dazu zählen auch Kinder mit Behinderung. Da sind die Wartezeiten für potentielle Adoptiveltern viel, viel kürzer. Wir haben damals eine Zeitspanne von drei Wochen zwischen der Aushändigung des Scheins nach Abschluss des Adoptionsbewerberverfahrens und der Adoption unseres Sohnes. Normalerweise wartet man - gerade wenn es um Säuglingsadoptionen geht - mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre. Von daher ist das nach außen zunächst einmal ein sehr schönes Zeichen.
Ich kann aber aus der Ferne überhaupt nichts zu der Motivation der potentiellen Eltern sagen, ob sie einfach nur schnell ein Kind haben wollen oder sich bewusst für ein Kind mit Behinderung entscheiden wollen. Denn damit sind noch einmal bestimmte Aufgaben und Verantwortlichkeiten verbunden.
domradio.de: Sie haben selber zwei Kinder mit Down-Syndrom adoptiert. Wie gestaltet sich seitdem ihr Leben?
Kleine: Es ist ein sehr, sehr reiches Leben. Wir haben zwei Kinder mit Down-Syndrom. Unser Sohn und unsere Tochter sind zwei völlig unterschiedliche Charaktere. Mittlerweile sind die beiden 23 und 19 Jahre alt. Ich bin früher von einigen Leuten mit einem "falschen" Respekt behandelt worden, die dann sagten, ich hätte mir eine ganz große Aufgabe aufgehalst. Darauf antwortete ich immer mit einem Augenzwinkern: "Andere fahren ihre Kinder zum Fußballtraining, ich fahre zur Physiotherapie mit denen." Also, man hat andere Aufgaben und andere Sorgen, aber es ist ein Leben mit sehr viel Freude und großem Reichtum.
Wenn man mit meinen Sohn beispielsweise in den Zoo geht, muss man sehr viel Zeit und Geduld mitbringen, weil er sich stundenlang einen Löwen anschauen kann. Normalerweise geht man am Gehege vorbei, schaut sich den Löwen kurz an und geht weiter. Mein Sohn geht aber nicht einfach so schnell weiter. Er schaut sich den Löwen intensiv an. Ich habe durch meinen Sohn gelernt, wie Löwen sich tatsächlich bewegen. Ich hätte diese Erkenntnisse nicht gehabt, wenn er mich nicht auf seine Weise gezwungen hätte, endlich einmal genau hinzusehen.
domradio.de: Viele erinnern sich vielleicht noch an die junge Frau mit Down-Syndrom in der ARD-Wahlarena, die Kanzlerin Merkel Anfang der Woche mit dem Thema Spätabbruch konfrontiert hat. Das Thema begegnet uns momentan häufiger in der Presse. Zeigt am Ende vielleicht auch diese Nachricht über den Facebook-Post, dass wir diese Kinder viel mehr schützen müssen und sich die Gesetzgebung ändern sollte?
Kleine: Das war ein ganz hervorragender Auftritt dieser jungen Frau, der mir sehr aus dem Herzen gesprochen hat, denn viele Eltern reagieren doch sehr schockiert auf die Nachricht, dass der Säugling, den sie auf die Welt bringen wollen, Trisomie 21 - das ist medizinische Begriff für das Down-Syndrom - hat.
Bei unseren beiden Kindern wäre es so gewesen, dass sie, wenn die Eltern vor der Geburt erfahren hätten, dass der Embryo Down-Syndrom hat, das Licht der Welt nie erblickt hätten. Das wissen wir von den leiblichen Eltern, die wir kennengelernt haben. Bei beiden Eltern war es auch so, dass sie die Kinder nicht haben wollten, sondern zur Adoption freigegeben haben, als die Diagnose Down-Syndrom kam. Das ist ein gesellschaftliches Faktum.
Wenn ich speziell auf die Entwicklung unserer beiden Kinder schaue, dann sage ich: "Was wäre der Welt verlorengegangen, wenn diese Kinder das Licht der Welt nicht erblickt hätten?" Bei der ganzen Debatte haben gerade die Säuglinge, die Embryos, keine Stimme. Sie werden ja nicht gefragt. Sie leiden auch nicht unter dem Down-Syndrom. Das ist Leben, von dem ich immer sage: "Der große Lebensimpuls Gottes schlägt auch in diesen Herzen mit großer Macht." Und dieses Leben ist wertvoll und lebenswert. Sie sind traurig, sie lachen. Es ist Leben, wie wir es kennen und niemand darf meines Erachtens leichtfertig hingehen und sagen, nur weil diese Behinderung da ist, darf dieses Leben nicht die Welt erblicken.
Das Interview führte Verena Tröster.
Information der Redaktion: Der Facebook-Post ist inzwischen auf privat gestellt worden. Weitere Informationen finden Sie hier.