"Ich möchte mich bei allen Deutschen entschuldigen", sagt Jamila Haidari mit Tränen in den Augen, "Dafür, dass ein Mann aus Afghanistan so etwas Schlimmes gemacht hat." Die 28-Jährige stammt ebenfalls aus Afghanistan, seit 2016 wohnt sie mit ihrer Familie in Deutschland. Der tödliche Angriff eines psychisch kranken afghanischen Geflüchteten auf ein Kita-Kind und einen Helfer in Aschaffenburg hat sie schockiert.
"Bitte denken Sie jetzt nicht, dass alle Afghanen böse sind, es gibt sehr nette Afghanen!" Jamilas Gedanken sind nun vor allem bei der Mutter des getöteten kleinen Jungen. Und sie denkt auch an ihre eigenen Kinder, die neunjährige Yasna und den achtjährigen Daniel. Yasna war auf der Flucht noch ein Baby, Daniel kam in einer Flüchtlingsunterkunft in Köln zur Welt. Werden die beiden es in Deutschland künftig schwerer haben, werden Menschen ihnen nun feindseliger begegnen, werden sie gar um ihr Aufenthaltsrecht zittern müssen? Auch Fragen wie diese gehen der jungen Frau jetzt durch den Kopf.
Für die Zukunft der Kinder
Dabei haben Jamila und ihr Mann Latif Uzbeck ihre Heimat im Norden Afghanistans doch vor allem um die Zukunft ihrer Kinder willen verlassen. Damit diese nicht erleben müssen, was sie selbst in ihrer Kindheit erlebt haben: Krieg und Angst, Diskriminierung als Angehörige der usbekischen Minderheit, Armut und Perspektivlosigkeit. Wenn sie heute zu Hause in ihrer Muttersprache Usbekisch sprechen, antworten Yasna und Daniel oft auf Deutsch, denn sie haben es in Kita und Schule akzentfrei gelernt.
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Beide sind hübsche Kinder, machen einen aufgeweckten Eindruck und mischen sich immer wieder in die Gespräche der Erwachsenen ein. "Meine Klassenkameradinnen sagen, wir sind alle gleich und irgendwie auch anders. Wichtig ist nur, dass wir Freundinnen sind!" erklärt Yasna strahlend.
"Hier sind wir in Sicherheit"
Fast einen Monat lang war die damals noch dreiköpfige Familie auf dem beschwerlichen Weg von ihrer ersten Fluchtetappe im Iran aus bis ins ferne Deutschland unterwegs. Sie gingen weite Strecken zu Fuß, fuhren mit Bussen und Bahnen, bestiegen schließlich in der Türkei ein gnadenlos überfülltes Schlauchboot – ausgelegt für maximal 20 Leute, tatsächlich belegt mit um die 70 Menschen. Bei dieser lebensgefährlichen Überfahrt wäre die kleine Yasna dann um ein Haar ertrunken.
"Wir haben Schreckliches erlebt, aber wir haben das hinter uns gelassen", erzählt Latif Uzbeck. Wo genau in Griechenland sie schließlich landeten und wie dann ihre Route weiter verlief, wissen er und seine Frau gar nicht. Wichtig sei nur, dass sie am Ende in Deutschland angekommen sind, meint Latif. "Hier sind wir in Sicherheit", so der 34-Jährige, "Und hier herrscht Freiheit." Jeder könne ohne Angst seine Meinung sagen, er jedenfalls fühle sich jetzt hier zu Hause, er fühle sich wohl.
Start im fremden Land
Dabei war der Start in diesem fremden Land mit der anderen Kultur und der anderen Sprache sehr schwer. Als ihr zweites Kind geboren wurde, lebten sie noch im Flüchtlingsheim, mussten sich Bad und Toilette mit vielen anderen teilen. Dann zogen sie um in ein gemischtes Wohnprojekt der katholischen Kirche, Latif begann für das Projekt zu arbeiten und lernte dort Benjamin Marx kennen, den damaligen Prokuristen der katholischen Aachener Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft.
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Über ihn bekam die junge Familie endlich eine eigene Wohnung. Auch aus Dankbarkeit dafür stellte sich Latif schließlich bei einer Ausgabe-Stelle der Tafel im Innenhof der Kölner Kirche Sankt Maria in Lyskirchen vor – als Helfer wohlgemerkt, nicht als Klient. "Ich habe sofort gesehen, wie gut und umsichtig dieser Mann arbeitet, wie empathisch er ist", erinnert sich Monika Becker, die als Vertreterin der Kirchengemeinde die Lebensmittelausgabe mitorganisierte.
Arbeit und Integration
Sie mochten sich gleich und schnell freundete sich die ehemalige Lehrerin auch mit der ganzen Familie an. Gern half sie bei Behördengängen, gab Ratschläge zum Umgang mit der deutschen Mentalität und organisierte Praktika für Latif – eins in einem Restaurant, eins in einer Tiefbaufirma und eins bei einem Steinmetz. "Alle drei Arbeitgeber hätten Latif sofort angestellt, sogar ohne Ausbildung." Der Familienvater entschied sich für die Steinmetzlehre und will im Sommer seinen Abschluss machen; dass er dann übernommen wird, hat sein Chef ihm längst versprochen. "Ich bin sehr stolz darauf, was diese Leute geschafft haben", sagt Monika Becker.
"Schließlich war Latif Analphabet, als er herkam; er hatte nie eine Schule besucht." Trotzdem lernte er unermüdlich lesen und schreiben – auf Deutsch. "Latif hat sein Fluchttrauma mit Arbeiten bewältigt", ist sich Becker sicher. Dass viele geflüchtete Männer monate- und jahrelang keine Arbeitserlaubnis bekommen, hält sie für eins der größten Defizite deutscher Integrationspolitik. "Schließlich entstehen beim Arbeiten die Bindungen und die Kontakte, für beide Seiten." Latif Uzbeck pflichtet der deutschen Freundin bei. Ohne arbeiten zu dürfen, meint er, sei er sicher krank geworden.
Sorgen wegen der Herkunft
Auch Jamila möchte wieder arbeiten; sie war bereits als Alltagshelferin im Kindergarten im Einsatz, eine bereits begonnene Ausbildung zur Kinderpflegerin musste sie abbrechen, weil sie sich erst einmal um ihre eigenen Kinder kümmern musste. Aber sobald ihr Mann einen regulären Job als Steinmetz hat, will Jamila wieder einsteigen. Anfang Februar hat sie ein Vorstellungsgespräch. "Ich mache mir Sorgen, dass ich da jetzt Probleme kriegen könnte, weil ich aus Afghanistan komme", gesteht sie. Auch Latif hat schon erlebt, dass Kollegen über den afghanischen Attentäter von Aschaffenburg redeten und plötzlich verstummten, wenn er dazu kam. "Aber dieser Mann ist doch krank! Und es gibt überall gute und schlechte Menschen, ganz egal, wo sie herkommen."
Jamila und Latif haben, so sagen sie, in Köln mittlerweile mehr deutsche Freunde als afghanische. Sie wollen hier einfach nur in Ruhe und Frieden leben, ihre Tochter und ihren Sohn in Sicherheit aufwachsen sehen. "Und ich träume davon, dass wir alle – unsere Kinder und auch wir Eltern – der deutschen Gesellschaft etwas zurückgeben können", versichert Jamila. "Wir haben hier so viel bekommen, das möchten wir irgendwann zurückgeben; wir möchten dieser Gesellschaft auch etwas Gutes tun."