Kirchen und Union entfremden sich laut Historiker seit Jahrzehnten

Hand in Hand war gestern

Die Kirchen haben die verschärfte Asylpolitik der Unionsparteien kritisiert. Ist das das Ende einer langjährigen Freundschaft? Der Gegenkurs zur Migrationspolitik von CDU und CSU kommt laut eines Historikers nicht überraschend.

Wahlplakat am Konrad-Adenauer-Haus / © Soeren Stache (dpa)

Der Gegenkurs von katholischer und evangelischer Kirche zur Migrationspolitik von CDU und CSU kommt aus Sicht eines Historikers nicht überraschend. "Die kritische Stellungnahme der Kirchen zu den Asylplänen von CDU-Chef Friedrich Merz ist Ausdruck einer sich über viele Jahre entwickelnden Entfremdung zwischen Kirchen und Union", sagte der Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Thomas Großbölting, am Donnerstag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Thomas Großbölting / © Lars Berg (KNA)

Zwar gebe es bei Kirchgängern beider Konfessionen immer noch hohe Zustimmungswerte für die Unionsparteien. "Aber auf der Ebene der politischen Vertretung gibt es seit den 80er Jahren ganz deutliche Schritte der Entfremdung." Auf die Frage, was das für die Zukunft bedeute, antwortete Großbölting: "Den Eindruck, dass die Kirchen und die CDU Hand in Hand gehen, wird es so in Zukunft nicht mehr geben."

"Die Zeit der Volkskirche ist vorbei"

Die Berliner Büros der katholischen und evangelischen Kirche hatten sich in einem am Dienstagabend verschickten Brief an die Abgeordneten kritisch zu den Vorhaben der Union geäußert, die Migrationspolitik zu verschärfen. Die geplanten Maßnahmen trügen nicht zur Lösung der tatsächlich bestehenden Fragen bei. Das Schreiben sorgte im Anschluss allerdings auch innerhalb der katholischen Kirche für Irritationen.

Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer  (Bistum Regensburg)

Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer distanzierte sich davon, laut der Deutschen Bischofskonferenz war die Veröffentlichung in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt nicht abgestimmt. Dies zeige, dass die politische Bandbreite innerhalb der beiden großen Kirchen größer wird, so Großbölting. "Die Zeit der mit einer Stimme sprechenden Volkskirche ist vorbei - ebenso wie die Zeit der Volksparteien."

"Kirchen bleiben wichtige Stimme"

In den vergangenen 10 bis 15 Jahren seien außerdem viele Politiker auf Distanz zu den Kirchen gegangen, insbesondere wegen der Aufdeckung des Missbrauchsskandals, sagte der Professor für Zeitgeschichte. "Für die Politik ist es immer weniger attraktiv, den Schulterschluss mit den Kirchen zu üben."

Trotz dieser Entwicklungen und trotz einer zunehmenden Säkularisierung werden die Kirchen nach Auffassung von Großbölting weiter eine bedeutende Rolle im medialen und politischen Diskurs spielen. "Aus der politischen Kultur der Bundesrepublik heraus sind wir es gewohnt, dass die Kirchen eine wichtige Stimme in der Sozial- und Migrationspolitik sind." An diese Stelle sei bislang keine andere Kraft getreten. Ein Beleg dafür sei, dass die aktuelle Kirchen-Stellungnahme medial breit aufgegriffen und sogar von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Rede im Bundestag zitiert worden sei.