Die Moscheegemeinden in Deutschland wachsen. Denn mit den Flüchtlingen kommen viele Muslime. Zugleich verlieren die großen christlichen Kirchen seit Jahren Mitglieder. Eine Entwicklung ohne ausgewogene Balance? Rechtspopulisten nutzen diffuse Ängste und machen Stimmung gegen den Islam. Experten sagen dagegen, die steigende Zahl von Muslimen berge viele Chancen.
Erstens: "Für die christlichen Kirchen kann das ein Anlass zu einer religiösen Erneuerung sein. Eine Chance, gelebte Religiosität zu zeigen, statt sie verschämt wegzupacken", sagt Jörn Thielmann, Geschäftsführer des Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa. "Durch die Begegnung mit muslimischen Flüchtlingen, die religiös sind und das nach außen auch deutlich zeigen, kommt auch Bewegung in die Kirchen rein. Da ändert sich etwas im Selbstverständnis der Kirchen."
Zulauf auch für christliche Kirchen?
Zweitens: Eine spürbare Zahl von Muslimen konvertiere zum christlichen Glauben, wende sich katholischen oder evangelischen Gemeinden und vor allem den Freikirchen zu. "Man beobachtet das an allen Ecken und Enden. Auch wenn es keine Zahlen gibt, nimmt das definitiv zu - aus einem ernsthaften religiösen Impuls heraus", schildert der Forscher.
Rund eine Million Flüchtlinge sind 2015 nach Deutschland gekommen. Mehrheitlich Muslime. Viele aus Syrien, Afghanistan, Iran, Irak oder aus dem arabischen Raum. Diese Flüchtlinge - also die "neuen" Muslime - seien tendenziell religiöser als die große Gruppe der türkeistämmigen Muslime, von denen viele vor langem als Arbeitsmigranten ins Land gekommen seien, meint Thielmann. Religion sei oft "einziger Trost und Aufrichtekraft", wenn man sonst alles verloren habe. Und Religion könne auch helfen bei der Integration.
Zunehmende Islamisierung widerspricht Faktenlage
Aktuelle Schätzungen gehen inzwischen von rund fünf Millionen Muslimen hierzulande aus. Zuvor war von rund vier Millionen oder auch von bis zu 4,3 Millionen Muslimen die Rede. Auch um rechten Kräften Wind aus den Segeln zu nehmen, betont die Integrationspolitikerin der nordrhein-westfälischen CDU-Fraktion, Serap Güler: "Nach wie vor ist die allergrößte Religionsgruppe in unserem Land die christliche. Auch wenn wir heute mehr Muslime haben, können wir wirklich nicht von einer Islamisierung sprechen". Das würde gegen die Fakten sprechen, betont die Kölner Muslimin. Tatsächlich zählen die katholische und evangelische Kirche zusammen mehr als 46 Millionen Mitglieder.
Güler meint, Politik solle nicht schönreden, aber gut funktionierende Dinge stärker herausstellen, um Angst vor dem Fremden und Neid entgegenzusteuern: "Wir sind eine Solidargemeinschaft, wir lassen für den Schwächeren den Schwachen nicht zurück." Unabhängig von der Religionszugehörigkeit gelte: "Bei uns muss niemand von seiner Sozialhilfe auch nur einen Euro an einen Flüchtling abgeben."
Für den Zentralrat der Muslime unterstreicht die Vizevorsitzende Nurhan Soykan: "Wir sehen uns natürlich in der Verantwortung, die Flüchtlinge zu integrieren." Manche Moscheegemeinde habe doppelt so viele Mitglieder wie vor der Flüchtlingskrise. Deutschland werde von der zunehmender Pluralität profitieren, glaubt sie. Die Politik dürfe aber die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, Moscheen und Übergriffe auf Muslime nicht unter den Teppich kehren und müsse stärker gegen Fremdenfeindlichkeit vorgehen. Soykan stellt klar: "Deutschland wird nie ein islamisches Land werden. Das ist Quatsch."
Persönliche Kontakte suchen
Dietmar Molthagen, Islamexperte der Friedrich-Ebert-Stiftung, sagt: "Wir sind jetzt im Prozess der Erkenntnis, dass sich unser Land durch Einwanderung verändern wird. Und mit den eingewanderten Flüchtlingen wird auch die islamische Religion noch sichtbarer." Das werde auch Konflikte befeuern, glaubt er mit Blick etwa auf Kopftuchdebatte oder häufige Proteste beim Bau repräsentativer Moscheen. Dennoch ist er optimistisch für die Zukunft - und plädiert für Begegnung und Kennenlernen, denn: "Ausländerfeindliche Einstellungen sind tendenziell dort weit verbreitet sind, wo es nur wenig Muslime und Ausländer gibt."
Thielmann appelliert an Politik und Medien, nicht jede "doofe Anti-Islam-Äußerung" aufzugreifen. Religionsfreiheit und Religionsausübung - auch kollektiv und im öffentlichen Raum - seien verfassungsrechtlich geschützt und unantastbar. Statt "stereotypem Unfug" eine öffentliche Bühne zu geben, rät er: "Gegen Islamophobie hilft: Reingehen in die Flüchtlingsunterkünfte oder Moscheen und Muslime kennenlernen." Und betont: "Wir sind Lichtjahre von Überfremdung entfernt."