Forum 321 will auch Prävention gegen Antisemitismus leisten

"Jüdinnen und Juden sehnen sich nach Normalität”

Dass jüdisches Leben in Deutschland viel mehr ist als Holocaust und Schatten des Nahostkonflikts, will das neue "Forum 321” mit Gesprächen und Veranstaltungen zeigen. Nach dem 7. Oktober ist das nötiger denn je.

Professor Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit / © Beatrice Tomasetti (DR)
Professor Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Gut zwei Monate nach dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel haben Sie das neue Gesprächsformat "Forum 321” auf den Weg gebracht. Es soll jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer machen. Wie wichtig ist das?

Prof. Jürgen Wilhelm (Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit): Das ist schon von besonderer Wichtigkeit. Als wir es geplant haben, haben wir natürlich den terroristischen Überfall der Hamas auf Israel nicht ahnen können. Wer hätte an so etwas gedacht? 

Jetzt es ist aber besonders wichtig, dass wir unsere jüdischen Mitbürger und Mitbürger ermutigen, dass wir Solidarität zeigen, dass wir in aller Öffentlichkeit deutlich machen, dass wir ihnen den Rücken stärken. Denn es kommt große Unsicherheit, sogar Ängstlichkeit oder Angst bei vielen auf, insbesondere, wenn sie Kinder haben; aber auch bei Erwachsenen. 

DOMRADIO.DE: "Forum 321” – warum dieser Name? 

Wilhelm: "Forum 321” – das orientiert sich am Jahr 321 nach Christus, als der römische Kaiser Konstantin für Köln ein Edikt erlassen hat, in dem er jüdische Menschen, die hier in Köln wohnten, verpflichtet hat, in den Stadtrat zu gehen und sich dort wählen zu lassen. Das klingt komisch. 

Hintergrund ist, dass die Kaufleute, die im Stadtrat waren, mit ihrem persönlichen Vermögen hafteten für Schulden, die sie für den Stadtrat machten. Die Juden durften bis dahin da nicht mitmachen und das hat Konstantin geändert. 

Das historisch Bedeutsame des Edikts ist, dass wir genau wissen, dass es am 11. Dezember 321 von Konstantin erlassen wurde. Und daran wollen wir anknüpfen – an 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, das ist die Idee. 

Prof. Jürgen Wilhelm

"Wir wollen die Sichtbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland weiterführen."

DOMRADIO.DE: Das Jubiläumsjahr 2021 war trotz der Corona-Einschränkungen sehr erfolgreich mit vielen Ausstellungen, Diskussions- und Kulturevents. Das wollen Sie jetzt weiterführen? 

Wilhelm: Absolut. Wir wollen die Sichtbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland weiterführen. Wir wollen auch noch öfter das Positive herausstellen. Wir wollen Musik darstellen und bildende Kunst, wir wollen jüdische bildende Künstler einladen. 

Wir wollen durch die Veranstaltungen deutlich machen, dass jüdisches Leben zu einer Normalität in Deutschland – historisch sowieso – gehört. Aber dass dies im Bewusstsein der Bevölkerung noch ansteigt, da ist noch viel zu tun. 

DOMRADIO.DE: Es ging schon im Jubiläumsjahr darum, dass jüdisches Leben in Deutschland sehr viel mehr ist als Holocaust und die Schatten des Nahostkonflikts. Fühlen Sie sich in dieser Hinsicht durch den 7. Oktober zurückgeworfen? 

Wilhelm: Ja, schon. Die aktuelle Berichterstattung konzentriert sich natürlich immer auf Außergewöhnliches, auf Krieg, auf Leid. Das ist ja auch richtig so. Aber dadurch ist es im Augenblick schon besonders schwer, das lässt sich nicht leugnen. Es gibt aber auch die andere Seite. Und die jüdischen Menschen wollen auch diese Seite. Händeringend verlangen sie nach einem Stück von dem, was wir vielleicht Normalität nennen könnten. 

Wenn wir mal die Sicherheits-Notwendigkeiten außer Acht lassen, fühlen sie sich auch zum Teil in ihrem sonstigen kulturellen Leben nicht genügend beachtet. Da wollen wir ein bisschen nützlich sein und das zumindest in Köln und für die Region hervorheben.

Prof. Jürgen Wilhelm

"Unser Ansatz ist es, jüdisches Leben sichtbar zu machen."

DOMRADIO.DE: Wie kann das konkret aussehen? 

Wilhelm: Das kann durch Veranstaltungen geschehen. Das kann dadurch geschehen, dass man Kontakte auch mit israelischen Künstlern hat, dass man sie besonders hervorhebt, ohne dass es zu einer positiven Diskriminierung kommen. 

Es geht nicht darum, Jüdischsein zu zeigen als Jüdischsein. Das ist auch ein Wert an sich. Aber das ist eher nicht unser Ansatz. Unser Ansatz ist es, jüdisches Leben sichtbar zu machen. Mit verschiedenen Formen der Öffentlichkeitsarbeit wollen wir darauf aufmerksam machen, dass jüdisches Leben mehr ist als Holocaust, dass es mehr ist als der Nahostkonflikt, zumindest hier in Deutschland. 

DOMRADIO.DE: Immer wieder steht eine gewisse Empathielosigkeit Kulturschaffender in Deutschland Juden gegenüber in der Kritik. Wie sehen Sie das? 

Wilhelm: Empathielosigkeit ist das richtige Wort. Ich bin schockiert darüber, dass es so unkritische, teilweise auch ahistorische und empathielose Kundgebungen von Studenten gegeben hat, etwa in Berlin und auch an anderen Universitäten. Das, finde ich, geht gar nicht. 

Die Täter-Opfer-Umkehr, die die Propaganda der Hamas natürlich in den Medien der westlichen Welt haben will, können wir nicht akzeptieren. Es hat mich schon sehr irritiert, dass zum Beispiel die an sich von mir hochgeschätzten Kölner Musikerinnen und Musiker von "Arsch huh” acht Wochen gebraucht haben, bevor sie sich zu einem Konzert am Aachener Weiher verabredet haben. 

Und dass sie es dann auch noch mit einem sehr stark zu diskutierenden Text getan haben, der auf Äquidistanz zwischen Terrorismus und Selbstverteidigung des Staates gesetzt hat, das hat mich schon sehr irritiert. 

DOMRADIO.DE: Die aktuelle Antisemitismus-Welle zeigt in den Augen einiger, dass wir versagt haben in der Erziehung gegen eben diesen Antisemitismus. Was ist da falsch gelaufen? 

Wilhelm: Es war falsch, dass das Thema Antisemitismus, dass das Thema jüdisches Leben angstfrei hier auch in Deutschland ausüben zu können, kein Thema war oder ist. In den Schulen nicht, auch in den Universitäten nicht oder nur sehr selten. 

Wenn eine engagierte Lehrerin das an einem Gymnasium oder in einer Sekundarstufe II unterrichtet, ist das wunderbar. Aber in 90 Prozent, vielleicht 85 Prozent der Fälle, auf jedem Fall aber bei einem ganz überwiegenden Teil, findet das Thema gar nicht statt. Wir haben das mit dem jeweiligen Kultusministerium immer wieder besprochen, auch auf Ministerebene. 

Ich habe es am 9. November in der Synagoge in Anwesenheit des Chefs der NRW-Staatskanzlei, Nathanael Liminski, angesprochen. Er hat nun zugesagt, dass er sich für eine Curriculum-Veränderung gerade für die Sekundarstufe II einsetzen wird. 

Ich kann nur sagen: Hoffentlich geschieht es dann auch irgendwann mal! Seit Jahren fordern wir das. Denn die jungen Menschen müssen mit dem Thema vertraut gemacht werden und zwar kontrovers vertraut gemacht werden. Sie müssen es kennen.

DOMRADIO.DE: Wenn Leute fragen: "Was kann ich persönlich gegen Antisemitismus tun?” – Was antworten Sie ihnen? 

Wilhelm: Ich sage ihnen, dass sie sich in verschiedenen Organisationen engagieren können, dass sie Mitglied werden können. Dann sind sie Teil einer Gesellschaft, dann kommen sie zusammen mit Gleichgesinnten, dann können sie sich austauschen. 

Sie können auch kritisch diskutieren. Selbstverständlich. Das gehört dazu. Es gibt also viele Anknüpfungspunkte. Man muss es nur selbst machen, hintragen können wir die Leute nicht. 

DOMRADIO.DE: Sie sind Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit. Wie sehen Sie deren Rolle? 

Wilhelm: Die Idee war ja zunächst, dass die christlichen Kirchen in den 1950er Jahren ihre Schuld im Nationalsozialismus, ihr Mitläufertum, ihre Mitverantwortung aufarbeiten und ein neues Verhältnis zum Judentum definieren wollten. Das ist weitgehend auch gelungen – theologisch. Aber inhaltlich ist es heute auch in den Kirchen kaum noch ein Thema. 

Die Solidarität der beiden großen Kirchen ist schon da. Das ist, glaube ich, nicht wegzudiskutieren. Aber ich habe Zweifel, ob es bei den jungen Menschen ankommt. Auch in den Institutionen der Kirchen ist das Thema Antisemitismus, wenn überhaupt, ein Randthema. 

DOMRADIO.DE: Das heißt, die Kirche müsste da auch noch viel aktiver sein? 

Wilhelm: Ja, alle sollten aktiver sein. Die Kirchen tun schon vieles. Im Grunde sind sie schon ganz vorne an der Spitze. Aber natürlich, man kann immer und muss immer noch mehr tun. Gerade jetzt.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Antisemitismus

Antisemitismus nennt man die offen propagierte Abneigung und Feindschaft gegenüber Juden als Volksgruppe oder als Religionsgemeinschaft. Der Begriff wird seit dem 19. Jahrhundert gebraucht, oft als Synonym für eine allgemeine Judenfeindlichkeit. Im Mittelalter wurden Juden für den Kreuzestod Jesu verantwortlich gemacht und als "Gottesmörder" beschuldigt. Während der Kreuzzüge entlud sich die Feindschaft in mörderischen Ausschreitungen, Vertreibungen und Zwangsbekehrungen.

Teilnehmende einer Demonstration zur Solidarität mit Israel / © Michael Kappeler (dpa)
Teilnehmende einer Demonstration zur Solidarität mit Israel / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
DR