DOMRADIO.DE: Das Bistum Island ist das nördlichste Bistum der katholischen Weltkirche. Es ist jung, es wächst. 1970 waren es 1.000 Katholiken, heute sind es gut 15.000. Wie ist dieser Anstieg zu erklären?
Jacques Rolland (Kanzler des Bistums Reykjavik, wird "Séra Jakob" – isländisch für Pfarrer Jakob – genannt): Das liegt hauptsächlich an der Einwanderung. Nach der Wende kamen viele Leute aus Mitteleuropa und Osteuropa.
Heutzutage stammen etwa 70 Prozent unserer Katholiken aus Polen. Dann gibt es natürlich auch einige aus Litauen, aus Tschechien, aus der Slowakei und auch aus anderen Ländern der Welt.
Es hat sich eigentlich sehr viel geändert. Als ich 1977 hierher kam, gab es kaum mehr als tausend Katholiken, aber fast alle waren Isländer. Heutzutage sind die überwiegende Mehrheit der Katholiken Ausländer.
DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es aktuelle Zahlen. Junge Leute unter 20 seien gar nicht mehr an der Kirche interessiert, viele seien Atheisten. Wie erklären Sie sich das?
Rolland: Die Menschen sind nicht unbedingt Atheisten. Es ist eher so, dass die Leute wenig für den Glauben und die Kirche übrig haben und auch nie in die Kirche gehen.
Das kennen die gar nicht. Schon in der evangelischen Kirche geht man nur in die Kirche, wenn etwas besonders ansteht: Taufen, Trauungen und vor allem Beerdigungen.
Die Leute haben aber doch so etwas wie einen versteckten Glauben. Der drückt sich aber nicht im täglichen Leben aus. Sie würden zwar sagen, der Glaube habe für sie keine Bedeutung. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht glauben. Dieser Glaube drückt sich nur kaum aus. Wie gesagt, es gibt eigentlich kein Interesse und keinen Kirchenbesuch.
Der Glaube wird wenig praktiziert und es wird nur wenig die Bibel gelesen. Das Land ist sehr säkularisiert.
DOMRADIO.DE: Island ist nicht gerade klein und Sie haben auch nicht gerade viele Priester auf dieser Insel. Wie organisieren Sie denn da das Gemeindeleben? Die Entfernungen sind teilweise wirklich sehr groß.
Rolland: Als ich 1984 als Priester angefangen habe, musste ich sehr viel reisen. Wir hatten nur zwei Pfarreien damals. Eine kleine Pfarrei in der Nähe von Reykjavik und die Kathedrale für das ganze Land.
Ein paar Jahre lang bedeutete das, dass ich fast jedes Wochenende 1.000 bis 1.500 Kilometer fahren musste – und das nicht auf Autobahnen, sondern auf Schotterstraße oder Pisten.
DOMRADIO.DE: Aber die Organisation von Gottesdiensten funktioniert auf Island?
Rolland: Jetzt haben wir acht Pfarreien, und in allen diesen acht Pfarreien gibt es regelmäßige Gottesdienste. Dafür müssen die Leute aber weite, weite Wege zurücklegen.
An einigen Kirchorten kommt es manchmal nur ein Mal pro Monat zu Gottesdiensten.
An anderen Orten wiederum, zum Beispiel auf den Westmännerinseln, feiern wir sogar nur vielleicht an zwei oder drei Tagen im Jahr Gottesdienst.
DOMRADIO.DE: Inwieweit beeinflusst denn die isländische Kultur die religiöse Arbeit?
Rolland: Es ist sehr stark im Bewusstsein der Isländer verankert, dass ihr Land Jahrhunderte lang ein katholisches Land gewesen war.
Und nicht nur das: Auch die ersten Bewohner des Landes, also noch vor der Zeit der Wikinger, waren irische Mönche und wahrscheinlich auch einige irische Siedler gewesen.
Das bedeutet, dass dieses Land wahrscheinlich das einzige Land in der Welt war, in dem die ersten Siedler Katholiken waren.
Irgendwie sind sich die Isländer dessen schon noch bewusst, dass sie im Jahr 1000 im Althing, dem isländischen Parlament (das Althing gilt als die zweitälteste Volksvertretung der Welt, Anm. d. Red.), den katholischen Glauben angenommen haben.
Damals standen sich Heiden und Christen gegenüber. Der Leiter des Parlaments hatte aus Sorge vor einem Bürgerkrieg auf eine Entscheidung und Einigung gedrängt.
Dafür zog er sich in die Kontemplation zurück. Nachdem er 24 Stunden kontemplierend unter einem Fell verbracht hatte, stand er auf und beschloss die Annahme des katholischen Glaubens, die das Parlament, und somit auch das Volk, absegnete.
Die Blütezeit der isländischen Kultur, in der die Sagas geschrieben wurden und die isländische Sprache sich entwickelt hatte – in einem Ausmaß, das die Isländer stolz auf ihre eigene Sprache und Kultur blicken lässt – fällt in die Zeit der katholischen Kirche.
Besonders den Einfluss der Klöster gilt es hierbei zu erwähnen. Die Mönche haben zum Beispiel die ganze heidnische Literatur über die Gottheiten der Germanen wie Odin oder Thor geschrieben.
Das also, was einen Isländer zu einem Isländer macht, ist sehr stark unter dem Einfluss der katholischen Kirche gewachsen. Die Reformation wurde den Isländern dann einfach aufoktroyiert.
Sie wurden nicht gefragt. Der König hat einfach einen Brief geschrieben, dass von heute an alle Isländer evangelisch sind und damit war dann Schluss.
Man ändert aber nicht seinen Glauben einfach so per Königsbrief. Dementsprechend sind sich die Isländer in ihrem Innersten dessen doch bewusst: Unser Glaube ist eigentlich der katholische, auch wenn wir formell nicht dazu gehören.
Das ist eigentlich der Glaube, den wir angenommen haben und in dem wir erzogen wurden.
DOMRADIO.DE: Wie läuft denn die Ökumene auf Island?
Rolland: Ich bin eigentlich von der Seite der katholischen Kirche für Ökumene und interreligiösen Dialog zuständig. Viele sehen die katholische Kirche als eine Art Mutterkirche.
Das ist ihnen zwar eigentlich irgendwie klar, aber sie sind eben Teil einer Staatskirche. Sie beziehen auch ihr Einkommen durch ihren Dienst. Und sie sind natürlich irgendwie abhängig vom Staat.
Wenn jemand katholisch wird, verliert er sein Einkommen. Aber viele evangelische Pastore sind und stehen uns ziemlich nah, jedenfalls näher als einem Protestantismus, wie man ihn in Deutschland oder Frankreich zum Beispiel sieht.
Auch in der Liturgie, über die Touristen oft sagen, dass sei eine katholische Messe, merkt man das. Es sind oft aber keine katholischen Messen. Sie sehen nur unter anderem aufgrund der Gewänder danach aus.
DOMRADIO.DE: In Deutschland wird gerade viel über den Synodalen Weg diskutiert. Wie blickt Island auf die Situation in Deutschland und wie sieht die Situation in Island aus?
Rolland: Die Isländer verfolgen schon, was in der Weltkirche passiert. Aber in der Kirche sind wir so multikulturell, wir haben hauptsächlich Polen in der katholischen Kirche, aber auch Gemeindemitglieder aus allen möglichen Ländern, sodass wir eigentlich irgendwie doch einen weltweiten Blick haben.
Das macht es andererseits auch sehr schwierig für uns, eine Gemeinde zu bilden, die zusammensteht. Da gibt es die philippinische Gruppe, die polnische Gruppe, die litauische Gruppe. Die haben außer dem Glauben wenig gemeinsam.
Deshalb sind die Themen, die zum Beispiel In Deutschland sehr stark angesprochen werden, hier zurzeit kaum Gesprächsthema. Es wird sich mehr auf die ganz konkrete pastorale, tagtägliche Arbeit konzentriert.
Wann kommt der Priester, damit wir mal wieder eine Messe haben? Wir sind da mehr auf dem Boden der Tatsachen. So große Überlegungen über die Zukunft der Kirche und wie es aussehen soll, ist noch nicht sehr präsent.
Wir haben ganz andere Sorgen. Wir müssen zunächst die tagtägliche Arbeit priorisieren. Das ist eine Taufe hier, das ist eine Messe dort. Die wenigen Priester müssen sich irgendwie so verteilen, dass sie die Leute erreichen oder umgekehrt, dass die Leute zum Gottesdienst kommen können. Diesen Fragen gilt vor allem unsere Aufmerksamkeit.
Für uns ist die Beziehung zu Deutschland aber sehr wichtig und ich hoffe, dass die Deutschen für uns beten und uns helfen.
Natürlich denken wir hier in Island auch an die große Kirche in Deutschland, die uns sehr viel unterstützt hat, besonders in dem letzten und diesem Jahrhundert. Hätten die deutsche Kirche und das Bonifatiuswerk uns nicht geholfen, gäbe es hier keine Kirche.
DOMRADIO.DE: Der Vatikan hat seine eigene Vorstellung von Sexualmoral und von Frauen. In Deutschland gab es jetzt den Fall, dass ein Kardinal die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren untersagt hat. Wie sieht das in Island aus?
Rolland: Die Frage hat sich bei uns in der katholischen Kirche nicht gestellt. Die Leute kommen nicht zu uns, wenn sie unbedingt einen kirchlichen Segen möchten.
Da können Sie einfach in die evangelische Kirche gehen, dort steht es ihnen frei.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche auf Island kümmert sich um diese Themen nicht?
Rolland: Ja, das ist noch kein Thema.
DOMRADIO.DE: 1989 war mit Papst Johannes Paul II. zum letzten Mal ein katholisches Oberhaupt auf Island. Wie stehen die Chancen, dass mal wieder ein Papst das Land besucht?
Rolland: Die Päpste sind meistens schon etwas älter. Papst Franziskus reist schon etwas umher, aber nur für ganz besondere Ereignisse, wie zum Beispiel jetzt in Portugal.
Aber für einen Papstbesuch in Island bräuchte es einen jungen Papst, wie damals Johannes Paul II., der nicht nur Lust auf eine solche Reise hatte, sondern auch die kleinen Kirchen bewusst durch derartige Besuche zu stärken versucht hatte.
Das war sehr schön und hatte uns wirklich sehr geholfen. Der Besuch hatte unsere Verkündigung mehr zum Vorschein gebracht bei den Isländern.
Aber ich erwarte in den nächsten paar 100 Jahren jedenfalls erst einmal keinen Papstbesuch. Da müsste sich ein Papst wieder erst wieder einmal denken: Ich bin jung genug und die Isländer haben seit so langer Zeit keinen Papst gesehen, vielleicht ist es wirklich an der Zeit, darüber nachzudenken.
Das Interview führte Oliver Kelch.