"Wehret den Anfängen!", heißt es oft, wenn es um Priester geht, die Schutzbefohlene missbrauchen. Im Fall von Edmund Dillinger (1935-2022), der katholischer Priester in Kirchengemeinden im Saarland und in Rheinland-Pfalz war, zeigt ein Blick in seine Kaplanzeit, dass schon damals das Missbrauchsverhalten hätte gestoppt werden können - sich dann aber letztlich über fünf Jahrzehnte hinzog. Doch in Pfarreien, in denen Dillinger als Seelsorger tätig war, seien "Vorfälle totgeschwiegen" und Hinweisen oder "offenen Geheimnissen" nicht ausreichend nachgegangen worden, heißt es in dem am 7. Mai vorgestellten vorläufigen Abschlussbericht von zwei Sonderermittlern.
Mindestens 19 Personen sexuell missbraucht
Im Laufe der Jahrzehnte hat Dillinger demnach mindestens 19 Personen sexuell missbraucht. Die Taten in "verschiedenen Schweregraden" habe er von 1961 bis 2018 begangen. Nicht nur als Seelsorger in Gemeinden, sondern auch später als Religionslehrer an mehreren Schulen, so die beiden Sonderermittler.
Fotos, Berührungen und Annäherungsversuche
Der ehemalige Koblenzer Generalstaatsanwalt Jürgen Brauer und der frühere stellvertretende Leiter der Staatsanwaltschaft Trier, Ingo Hromada, untersuchten den Komplex im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bistum Trier (UAK). "Sehr viele Personen", deren Zahl nicht annähernd zu beziffernd sei, wurden laut ihrem Bericht Opfer von sexuell motiviertem Verhalten Dillingers, "indem sie in sexualisierten Posen fotografiert wurden, Berührungen in allen Körperregionen ausgesetzt waren oder Annäherungsversuche abwehren mussten".
Als Kaplan in der Jugendarbeit eingesetzt
Was dies konkret bedeutet, wird deutlich, wenn man die Ausführungen des Abschlussberichts zu mehreren Gemeinden liest, welche die ersten beruflichen Stationen auf Dillingers Lebensweg waren. Nach seiner Priesterweihe trat Dillinger am 25. Juli 1961 seine erste Stelle als Kaplan in der Pfarrei Sankt Johann in Saarbrücken an - als 25-Jähriger. Er war dort in der Jugendarbeit tätig. Es spreche "sehr viel dafür, dass Dillinger bereits bei seinem ersten Einsatz als Kaplan sexuell motivierte Übergriffe auf Jugendliche unternahm", heißt es in dem Abschlussbericht.
Die Anzahl der betroffenen Jugendlichen lasse sich aber ebenso wenig feststellen wie Ausmaß und Schwere der Taten. Das habe seine Ursache auch darin, dass ein damaliger Priesterkollege es unterlassen habe, "die Personalverantwortlichen im Bistum Trier in Kenntnis zu setzen, obwohl er schon damals die Überzeugung gewonnen hatte, dass es zu sexuellen Übergriffen gekommen war", schreiben die beiden Sonderermittler.
Einem der Nachfolger von Kaplan Dillinger in Sankt Johann in Saarbrücken hatten offenbar ältere Messdiener "deutlich zu verstehen gegeben, dass der vormalige Kaplan Dillinger nicht sauber gewesen sei", heißt es im Abschlussbericht. Der betreffende Nachfolger schämte sich demnach zwar sehr für seinen Vorgänger, ging den Behauptungen aber nie weiter nach.
Übergriffe setzen sich nach Pfarrei-Wechsel fort
Dann folgte ein Pfarrei-Wechsel: Am 20. August 1963 wechselte Dillinger als Kaplan in die Pfarrei Mariä Himmelfahrt in Saarlouis-Roden. Hier war er ebenfalls in der Jugendarbeit eingesetzt. In den Personalakten finden sich demnach etwa Vorkommnisse, wonach Dillinger im Sommer 1964 mindestens zwei Jungen an die nackten Oberschenkel griff: einem Jungen "vielfach" während einer gemeinsamen Fahrt mit Jugendlichen nach München, einem zwölfjährigen anderen Jungen "wiederholt" während Gruppenstunden.
Dillinger wurde damals zwar in einem Gespräch im Bischöflichen Generalvikariat mit den Vorwürfen konfrontiert. Er räumte dabei ein, "bei Jungens schon einmal den Arm auf die Schulter gelegt und auf die Oberschenkel geklopft" zu haben. Den Vorwurf eines Jungen, auf der Fahrt nach München berührt worden zu sein, wies er zurück.
"Für uns steht außer Frage", schreiben die Sonderermittler, "dass die Vorwürfe damals weiterer Aufklärung bedurft und zu Konsequenzen hätten führen müssen". Es gebe keinen Anlass, an der Glaubwürdigkeit der Jugendlichen zu zweifeln. Ihre Schilderungen reihten sich nahtlos ein in die zahlreichen Übergriffe Dillingers. Sie spiegelten "offenbar typische Verhaltensmuster" Dillingers, "die er bis ins hohe Alter nicht ablegte".
"Fröhliche Zusammenkünfte" mit Messdienern
Doch statt Aufdeckung folgte wieder eine Versetzung: Dillinger wurde ab dem 20. Juli 1965 als Kaplan in der Pfarrei Sankt Peter in Bitburg in Rheinland-Pfalz eingesetzt. Ob die Versetzung im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Saarlouis-Roden gestanden habe, sei unklar, heißt es im Abschlussbericht. Auch in Bitburg war Dillinger jedoch maßgeblich in der Jugend- und Messdienerbetreuung eingesetzt und erteilte an einigen Schulen Religionsunterricht.
Dillinger war gerade zwei Monate in Bitburg, da trat eine von ihm ausgearbeitete, merkwürdige "Satzung der Messdienerschaft der Pfarrei Sankt Peter in Bitburg" in Kraft. Die Aufnahme in den Kreis setzte voraus, dass die Probanden förmlich versprachen, "schlechte Filme zu meiden, schlechte Illustrierte und Heftchen weder zu kaufen noch geliehene zu lesen, Kameradschaft mit verdorbenen Jungen zu unterlassen". Mit den so indoktrinierten Messdienern unternahm Dillinger dann, wie er es in einem Pfarrbrief ausdrückte, "viele schöne Fahrten, Spiele und fröhliche Zusammenkünfte".
Mädchen unter der Kleidung angefasst
Missbrauchstäter sind oft Meister im perfiden Verdecken ihrer Taten. Ein weiteres Beispiel im Abschlussbericht aus Dillingers Zeit in Bitburg Mitte der 1960er Jahre: Mit E-Mail vom 18. April 2023 schilderte demnach ein Hinweisgeber Berichte seiner Schwester, die im Alter von 14 oder 15 Jahren Schülerin des Religionslehrers Dillinger gewesen sei.
Dillinger habe sie wie auch zwei weitere Mädchen in ihrem Alter nacheinander allein in einen Raum gebeten. Dort habe er mit der Hand unter das T-Shirt der Mädchen gegriffen. Nachdem er alle drei Mädchen unter der Kleidung angefasst habe, habe "eines der Kinder für alle Eis kaufen dürfen". Die Mädchen hätten seinerzeit ihre Eltern nicht ins Vertrauen gezogen, da man gedacht habe, dass Pfarrer "über dem Gesetz" stünden.