DOMRADIO.DE: Frau Dierks, Sie sind unter anderem Coach, aber auch evangelische Pfarrerin. Sie kennen also die Probleme der Kirche auch aus der Praxis. Wie kann denn ein ganzer Kongress dabei helfen, die Krise der Kirchen in den Blick zu nehmen?
Birgit Dierks (Pfarrerin und Referentin für missionale Gemeindeentwicklung): Da das die Kirchen schon seit vielen Jahrzehnten versuchen, haben wir jetzt nicht den Anspruch, dass ein Kongress sozusagen die Auflösung ist - im doppelten Sinn. Sondern wir möchten es mal etwas anders angehen, jenseits von Fachvorträgen, die wir zur Genüge kennen.
Dass wir gemeinsam miteinander einen Weg gehen, also nicht nur vom Geiste her, sondern auch vom Herzen her. Und dass wir mal nachempfinden, was Auflösung im anderen Sinne bedeutet. Das ist sehr wichtig, dass man auch emotional mitkommt, weil ich glaube, dass diese Seite oft übersehen wird, obwohl wir als Kirche gerade bei Auflösungs- und Trauerprozessen eigentlich die Experten sind.
DOMRADIO.DE: Herr Dessoy, Sie sind Theologe, Psychologe und coachen Führungskräfte. Von denen haben Sie nun eine ganze Reihe zwei Tage zusammen. Wie geht man denn mit so viel Leitungskompetenz um?
Valentin Dessoy (Theologe, Psychologe und Coach für Leitungskräfte): Die Situation ist eher die, dass gerade die Führungskräfte in der gegenwärtigen Situation eigentlich nicht so recht wissen, wie es gehen kann. 40 Jahre Reformversuche, quasi schrittweise unsere Kirche zu verändern, in einen Status zu bringen, mit vergleichsweise geringem Erfolg. Das macht auch viele unsicher. Und das ist auch die Idee gewesen hinter diesem Kongress. Im Grunde die Hypothese, dass dieses stetige und schrittweise "ein bisschen verändern" nicht dazu führen kann, dass Kirche diesen qualitativen Sprung macht, sondern, dass das eher ein Prozess ist, der disruptiv oder emergent ist.
Man könnte auch theologisch sagen: Es geht um Tod oder Auferstehung. Es geht eigentlich um die DNA von Kirche in Anwendung auf sie selbst. In diesem Sinne wurde der Kongress im Grunde als eine Art Selbstversuch gestalten. Miteinander mit Führungskräften einen Weg zu gehen und zu sagen: Lasst uns mal schrittweise angucken, wie die Situation ist. Mit welchen Wurzeln halten wir das aufrecht? Dann gehen wir mal in eine Unterbrechung und gucken, was bleibt, was im Kern da ist und was wir neu bauen können. Ein Versuch, einen nachhaltigen Prozess miteinander zu gehen. Es wird niemanden geben, der sagt: "So geht's!". Stattdessen wird das fokussiert, was es in Teilen so schwierig macht, nämlich die emotionalen Prozesse, die laufen, wenn es darum geht, etwas aufzugeben, die Kontrolle zu verlieren. Das ist im Grunde der Kern dieses Kongresses.
DOMRADIO.DE: Ich habe manchmal den Eindruck, dass Führungskräfte sagen "Die Volkskirche ist am Ende, die gibt es nicht mehr." und man ist manchmal sehr dabei, Dinge einzureißen, ohne eine Idee zu haben, was dann kommen soll, beziehungsweise verletzt man vielleicht auch die Menschen, die immer noch in dieser "Rest-Kirche" zu Hause sind. Wie bekommt man es bei so einem Kongress hin, die Führungskräfte so zu öffnen, dass man wirklich über eine Auflösung spricht?
Dessoy: Das Wort Auflösung ist ja weniger im Sinne von "Wir wollen die Kirche auflösen" gemeint. Das ist ein Phänomen, das faktisch läuft.
Das heißt, die jetzige Gestalt löst sich auf. Volkskirche ist ans Ende gekommen. Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir aus der Lähmung heraus, sie dennoch immer wieder zu reproduzieren, ohne zu wissen, wie es gehen kann? Denn das ist Fakt. Wir müssen im Grunde eine Kirche langsam zu einem Ende führen, ohne zu wissen, wie es perspektivisch aussieht. Und wie können wir eine experimentelle Haltung bekommen, dass wir Dinge ausprobieren können?
Und da ist die evangelische Kirche eindeutig weiter. etwa mit Erprobungsräumen.
DOMRADIO.DE: Frau Dierks, was bedeutet das, wenn man Mitglieder vor sich stehen hat und sagt: "So wie ihr die Kirche kennt, so geht es nicht mehr." Auch bei den Führungskräften ist es sicherlich nicht so einfach zu sagen: "Das, was du in den letzten 30 Jahre gemacht hast, das kommt an ein Ende." Wie nimmt man da die Menschen mit?
Dierks: Es ist wichtig, dass man, wenn man Häuser einreißt oder sie zu Ruinen werden, schaut, dass nicht noch Leute drin wohnen, wenn man die Abrissbirne ansetzt.Insofern ist Seelsorge und Begleitung ein großer Punkt. Auch das, was ich vorhin angedeutet habe: Trauerprozesse, im wahrsten Sinne des Wortes. Dass man sozusagen würdigt, was war, aber zugleich auch der Trauer Raum gibt.
Wenn man das nicht tut, dann kommt es immer wieder als Emotion hoch und landet irgendwo dann als Depression. Insofern wollen wir genau diese emotionale Ebene auch stärken.
Dass man sich traut, diesen Weg - auch, wenn man nicht genau weiß, wie lange der dauert - anzufangen und zu gehen, auch für sich persönlich. Das andere ist, dass Führungskräfte auch ein Gespür dafür entwickeln müssen, nicht nur wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, auf die Menschen, die da jetzt warten und immer was wollen. Sondern zu sagen: "Trotzdem machen wir was Neues."
Und ein Punkt sind zum Beispiel die Evangelischen Landeskirchen, die Erprobungsräume einrichten. Das heißt, sie definieren Räume, in denen was Neues möglich ist, ohne den anderen dafür erst mal etwas wegzunehmen. Natürlich wird es ein Umschichtungsprozess werden, aber es geht um ein gutes Miteinander. Und vor allen Dingen darum, erst mal den Geist freizubekommen, nicht immer gleich an die Versorgung von denen, die da sind, denken zu müssen, sondern auch an die zu denken, die noch nicht da sind, mit denen man gemeinsam etwas Neues aufbauen möchte.
Dessoy: An der Stelle würde ich widersprechen: Es wird nicht gehen ohne den, so zu sagen, "Old Schoolern", die da sind, etwas wegzunehmen. Das wird nicht gehen. Aber ich stimme Dir in dem Sinne zu: Es geht nicht darum, dass diejenigen, die 30 Jahre sozialisiert sind, auf ihre Art und Weise Kirche zu sein, plötzlich alles anders machen. Das wäre ein Kunstfehler. Sondern es geht darum, Raum zu schaffen für neue Formen, für neue Menschen. Und das heißt in Konsequenz, dass man entscheiden müssen wird: Wie viele Ressourcen schiebt man wohin? Dieser Diskurs muss miteinander geführt werden.
Dierks: Ja. Leider ist meine Erfahrung, dass das eben nicht gemacht wird, dass man etwas wegnimmt.
Dessoy: Genau, das passiert.
Dierks: Aber das Problem ist Folgendes: Wir reden seit 20 Jahren, auch bei mir in der Kirche, von Sparprozessen und davon, dass es weniger Geld wird. Und das Problem war, durch bestimmte wirtschaftliche Aufschwünge ist es mehr Geld geworden. Das heißt, mit diesem Argument konnte man jetzt lange nicht mehr kommen. Es hatten sich schon Leute darauf eingestellt, dass es weniger wird. Und dann ist es immer mehr geworden. Und jetzt sind wir leider an dem Punkt, wo es wirklich weniger wird. Es ist wie bei einem Rufer, der "Feuer!" ruft, und dann ist nichts. Und wenn es wirklich brennt, dann hat man Schwierigkeiten, es zu vermitteln. Davor steht aber die ganze Kirche, auch die Erprobungsräume. Die werden auch nicht lange finanziert werden müssen. Selbstfinanzierung und unternehmerisch Kirche sein ist ein Thema, das zum Beispiel gerade sehr im Kommen ist.
DOMRADIO.DE: Dann schauen wir jetzt nochmal auf diesen Kongress. Was wollen Sie denn den Teilnehmern jetzt vermitteln? Sie haben schon gesagt: Fertige Konzepte gibt es nicht. Geht es einfach darum, eine Offenheit für Neues zu generieren? Oder geht es einfach erst mal darum, überhaupt loslassen zu können?
Dessoy: Genau, es wäre für mich das Erstere. Es gibt bereits jetzt ganz viele Initiativen, innovativ zu sein. Das ist unbenommen, das existiert ja. Aber eine der Kernproblematiken ist die, dass das Loslassen nicht gelingt. Dass man immer weiter investiert in den größten Teil der Ressourcen, gerade in der katholischen Kirche. Vom Einheitsdenken herkommend gibt es in der katholischen Kirche überhaupt keine Idee, dass es möglicherweise parallel auch ein anderes Betriebssystem geben könnte. In der evangelischen schon.
Aber in beiden Kirchen ist klar, dass dieses Investieren in das Alte weiter da ist. Und dieses Loslassen und das Gefühl, nicht mehr alles kontrollieren zu können.
Es geht darum, dieses Gefühl, die Kontrolle zu verlieren und das Vertrauen zu haben in den Geist, dass der das schon bauen wird - ich glaube, das ist die Kernproblematik, die wir gerade haben. Es geht um diesen Kern: Bin ich bereit zu springen, wenn ich nicht weiß, wo ich lande? Tod und Auferstehung - das ist sozusagen die Logik, um die es geht. Genau um diesen Punkt wird es beim Kongress geben. Mit den Führungskräften darüber zu sprechen, wie man das aushalten kann.
DOMRADIO.DE: Frau Dierks, was ist Ihr Ziel für diesen Kongress?
Dierks: Nicht nur loslassen. Das eine ist loslassen, auch persönlich. Das andere ist, dass man seine Macht eben nicht dazu benutzt, um steuern zu wollen. Das wäre dieses im Sinne von "nicht steuern können". Aber trotzdem noch einen Rahmen zu halten, in dem etwas zusammenbleibt, um gemeinsam zu reagieren. Ich glaube, das ist die große Kunst für die Kirche.
Und wenn wir das schaffen, dass wir bei diesem Kongress diesen "Miteinander-Weg" und das "aufeinander angewiesen sein" schaffen, auch über die Konfessionen hinweg. Das ist nämlich mein großer Punkt, dass die Zukunft der Kirche ökumenisch sein muss und sein wird. Wir auf diesem Kongress wollen das exemplarisch leben. Wir sind aufeinander angewiesen. Gemeinsam einen Rahmen zu halten, in dem was Neues entstehen kann, das wäre eine ganz tolle Sache. So wie wir jetzt in diesem Kreis-Format, das wir haben, auch ein Rahmen halten, obwohl wir eben nicht wissen, was darin die Einzelnen erleben und wie es am Ende ausgeht.
Das Interview führte Mathias Peter.