Mevlüde Genc gesteht, sie sei sehr aufgeregt mitten im Scheinwerferlicht und vor so viel politischer Prominenz. Die 75-Jährige, die vor 25 Jahren bei einem fremdenfeindlichen Brandanschlag in Solingen fünf Familienmitglieder verloren hat, ergreift am Ende der Gedenkstunde in der Düsseldorfer Staatskanzlei mit bebender Stimme und auf Türkisch das Wort.
Sie trage keinen Hass und keine Rache in sich, versichert das weibliche Oberhaupt der Opferfamilie, "ausgenommen die vier Personen, die mein Heim zu einem Grab machten".
"Es ehrt mich und berührt mich, dass Sie heute an meiner Seite sind"
In Solingen hatten in der Nacht zum 29. Mai 1993 vier Männer das Haus der Familie Genc angezündet. Zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte von Mevlüde Genc kamen um. Als Täter wurden vier Jugendliche aus dem rechtsextremistischen Milieu verurteilt, die ihre Strafen bereits verbüßt haben.
Zum 25. Jahrestag dieses Anschlags hatte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zu der Gedenkstunde eingeladen – mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu in der ersten Reihe.
"Es ehrt mich und berührt mich, dass Sie heute an meiner Seite sind, um meinen Schmerz mit mir zu teilen", sagt Mevlüde Genc zu den Ehrengästen gewandt. Sie selbst sei ein Teil beider Staaten. "Ich bin in der Türke geboren, in Deutschland aber bin ich satt geworden."
"Wir haben alle denselben Gott"
Ihre Familie habe sich in Solingen immer als "Kinder dieser Gesellschaft" empfunden. Alle Menschen müssten ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft werden, unabhängig von ihrer Hautfarbe und Religion. "Wir haben alle denselben Gott", ruft die kopftuchtragende Muslima in den Saal und plädiert leidenschaftlich für eine Versöhnung der Länder und Kulturen.
Dann gibt die Mutter einen Einblick in ihr Seeelenleben. "Ich trage diesen Schmerz seit 25 Jahren in mir. Nur Gott weiß, was das für ein Schmerz ist." In der Nacht habe sie geweint und am Tag ihren überlebenden Kindern ins Gesicht lächeln müssen, "damit der Hass nicht Eingang findet in deren Herzen". An ihre Enkel habe sie die Botschaft ausstrahlen wollen, dass das Leben "schön und süß" sei.
"Aber ich habe das Leben nicht leben können", sagt Genc. "In einer hellen Welt lebte und lebe ich im Dunkeln." Sie wünsche, dass Gott diesen Schmerz niemand anderen erleiden lasse. Trotz allem will die Deutsch-Türkin aber in die Zukunft blicken: "Lasst uns nicht in die Vergangenheit schauen, lasst uns nach vorne zum Positiven und zum Guten schauen."
Merkel: Auf eine unmenschliche Tat mit Größe reagiert
Merkel wendet sich direkt an Genc. "Auf eine unmenschliche Tat haben Sie mit menschlicher Größe reagiert. Dafür bewundern wir Sie." Zudem ruft die Kanzlerin zum Schutz der Menschen auf, die in Deutschland Ziel von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind.
Immer noch finde rechtsextremistisches und -populistisches Gedankengut Verbreitung. Zu oft würden die Grenzen der Meinungsfreiheit "sehr kalkuliert ausgetestet" und Tabubrüche leichtfertig als politisches Instrument eingesetzt. Aufgrund des Holocaust komme Deutschland eine besondere Verantwortung bei der Bekämpfung vom Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus zu.
"Schrecklichste Ereignis" in der Geschichte Nordrhein-Westfalen
Der Brandanschlag von Solingen sei "das schrecklichste Ereignis" in der Geschichte Nordrhein-Westfalens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen, sagt Laschet. Die Erinnerung an dieses Verbrechen sei wichtig, weil die Lehren daraus bis heute "nichts an Aktualität" verloren hätten. Der 29. Mai 1993 müsse einen festen Platz in den Geschichtsbüchern haben.
Dann zitiert der Ministerpräsident aus dem jüdischen Talmud: "Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen."
Die NRW-Landesregierung will Mevlüde Genc besonders ehren und eine mit 10.000 Euro dotierte "Mevlüde-Genc-Medaille" kreieren. Damit sollen künftig Persönlichkeiten und Gruppierungen ausgezeichnet werden, die sich in ihrem Sinne um Versöhnung zwischen den Kulturen einsetzen, kündigt Laschet am Ende der Gedenkstunde an. "Damit wird der Name von Mevlüde Genc noch viele Jahre in Erinnerung bleiben im Land Nordrhein-Westfalen."
Johannes Nitschmann