DOMRADIO.DE: Herr Müller-Offermann, die BONO-Direkthilfe, die sich dem Kampf gegen Menschenhandel, die Verschleppung junger Mädchen und Frauen sowie deren Befreiung, Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft verschrieben hat, feiert in diesem Jahr ihren 20. Geburtstag. Damals mit einem Team aus Ihrer ehemaligen Pfadfinderjugend gegründet, kann sich die Bilanz Ihres ehrenamtlichen Engagements nach zwei Jahrzehnten mehr als sehen lassen. Was haben Sie bisher erreicht?
Michael Müller-Offermann (Vorsitzender des BONO-Direkthilfe e. V.): Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen vor Ort ist es uns gelungen, fast 10.000 Frauen und Kinder aus der Zwangsprostitution zu befreien, weit über 50.000 Frauen und Kinder an der Grenze zwischen Nepal und Indien bzw. Bangladesch abzufangen, um sie davor zu bewahren, von kriminellen Banden in die Bordelle der Rotlichtviertel von indischen Großstädten verschleppt zu werden, und dafür zu sorgen, dass bei Razzien durch die Polizei etwa 2.800 Personen verhaftet wurden. Das sind Erfolge, die zeigen, dass wir viele Mädchen und Frauen vor einem schrecklichen Schicksal bewahren konnten. Nicht zuletzt verdanken sich diese Zahlen einem hoch engagierten Team von insgesamt 20 Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die jeweils sehr verschiedene Aufgabenbereiche verantworten und in diesen 20 Jahren allein sechs Millionen Euro an Spendengeldern akquiriert haben.
Das Geld kommt unseren Partnern „Maiti Nepal“ und „Nepal Matria Griha“ in Kathmandu sowie „SOS Bahini“ in Pokhara oder der „Rescue Foundation“ in Mumbai, „New Light“ in Kolkata und „Chaithanya Mahila Mandali“ in Hyderabad, außerdem „Rights Jessore“ in Bangladesch zugute. Wenn junge Mädchen bei Polizeieinsätzen befreit werden, müssen sie umgehend gesichert untergebracht werden. Dafür haben wir selbst vier sogenannte Schutzzentren errichtet: eine Therapieeinrichtung und eine integrative Schule für Straßenkinder in Kathmandu, ein Zentrum für befreite Mädchen in Delhi und jetzt erst kürzlich in Hyderabad ein Kinderhaus für die Kinder von Mädchen und Frauen, die in der Prostitution arbeiten. Außerdem haben wir immer wieder Projekte der Rehabilitierung angestoßen und federführend deren Finanzierung übernommen. Denn nicht zuletzt macht einen Großteil unseres Engagements die Unterstützung von 15 weiteren Projekten aus, die bereits bei dieser Thematik aktiv und auf finanzielle Förderung angewiesen sind.
DOMRADIO.DE: Können Sie Ihre Arbeit in Nepal, Bangladesch und Indien einmal konkret schildern?
Müller-Offermann: Einerseits ist unser Ziel, die entführten Mädchen, die unter falschen Versprechungen von ihren Familien weggelockt werden, zu befreien. Und dann wollen wir ihnen mit Schulbildung, einer Berufsausbildung oder sogar einem Studium eine Resozialisierung ermöglichen und damit eine Zukunftsperspektive eröffnen. Die meisten sind nach ihrer Befreiung körperlich und seelisch gezeichnet und weisen Narben auf, die ein Leben lang nicht mehr heilen.
Nachhaltigkeit ist uns daher wichtig. Erst nach und nach haben wir unser Engagement nach Indien und Bangladesch ausgeweitet, als wir die Routen der Schlepper nachverfolgt und gesehen haben, dass die Mädchen – manchmal fast noch Kinder – in die großen Metropolen der Nachbarländer verkauft werden und sie umgehend dort Hilfe brauchen, wo sie aufgegriffen werden. Auch Prävention in den Dörfern und Aufklärung sind wichtige Säulen unserer Arbeit, damit arme Familien gar nicht erst auf diese Schlepper hereinfallen. Bei allem aber sind wir auf die eigenständigen Partnerorganisationen – registrierte NGOs mit eigenem Personal, eigenen Immobilien und Hilfsprogrammen – angewiesen. Anders wäre unsere Arbeit gar nicht möglich.
Inzwischen können wir mit Stolz sagen, dass aus der ersten Generation der geretteten Frauen sogar eine Ärztin, eine Apothekerin und einige Krankenschwestern hervorgegangen sind, die von den BONO-Hilfsmaßnahmen profitiert und die wir mit einer Ausbildung gefördert haben; Mädchen, die unter anderen Umständen keine Chance gehabt hätten. Immer ist es so, dass wir mit kleinen Projekten beginnen und dann genau beobachten, welches Entwicklungspotenzial diese haben. Oft wächst dann aus einer anfänglichen Initiative eine dauerhafte Unterstützung mit tragenden Strukturen.
DOMRADIO.DE: Wie kann es sein, dass sich diese spezielle, Menschen verachtende Form der Kriminalität in Ländern wie Nepal, Indien und Bangladesch so ausbreiten kann und derart floriert? Andererseits ist das ja nicht nur ein Thema auf dem subasiatischen Kontinent und damit weit weg von uns. Ganz im Gegenteil. Auch in Europa und Deutschland gibt es ganze Schleuserringe und -kartelle…
Müller-Offermann: Waffen-, Drogen- und Menschenhandel sind einfach eine Milliarden-Industrie. Das muss man wissen. Speziell in Nepal, aber auch in anderen Teilen der Welt wirken die große Armut vieler Menschen, aber auch die untergeordnete Stellung der Frau wie Brandbeschleuniger eines ohnehin für diesen Kulturraum typischen gesellschaftlichen Systems. Auf dem Land, in den besonders armen Regionen, haben die Schlepper leichtes Spiel. Sie versprechen den Eltern einer oft minderjährigen Tochter eine bessere Zukunft. Das Tragische ist – was die meisten Familien aber ja nicht wissen – je jünger ein Mädchen ist, desto interessanter ist es für die potenziellen Freier, an die die Mädchen später weitervermittelt bzw. wie Sklavinnen verkauft werden, weil es zum Beispiel noch nicht mit HIV infiziert wurde.
Das Beispiel Katar hat gezeigt, was es heißt, wenn Menschen ausgebeutet werden und unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten – oft unter Einsatz des eigenen Lebens. Denn unter den Wanderarbeitern, die die Fußballstadien gebaut haben, waren auch viele Nepalesen. Allerdings muss man so weit gar nicht gehen. Auch Frauen aus Osteuropa, die mit ähnlichen Versprechungen nach Deutschland, wo ihnen Arbeit versprochen wird, gelockt werden, ergeht es ja nicht anders. Auch sie werden Opfer von Menschenhandel. Nicht umsonst gilt Deutschland als der größte Puff Europas. Der einzige Unterschied: Es handelt sich meist nicht um Minderjährige. Aber global hat das Phänomen der sexuellen Ausbeutung grundsätzlich zugenommen, vor allem während der Corona-Zeit, so dass man im Dark-Net inzwischen alles bestellen kann. Wünsche jeder Art sexueller Perversion werden hier – sogar mit Live-Vergewaltigungen von Kindern – befriedigt, so dass wir Aufklärungskampagnen initiieren und Online-Ermittler der Organisation International Justice Mission (IJM) finanziell unterstützen. Die Nachfrage nach kinderpornografischem Material im Internet ist in einem schier unvorstellbaren Ausmaß gestiegen.
DOMRADIO.DE: Sie kommen gerade von einer zwölftägigen Reise aus Indien zurück, wo Sie in Hyderabad Ihr aktuelles Projekt eingeweiht haben: das Kinderschutzhaus von Chaithanya Mahila Mandali. Was hat es damit auf sich?
Müller-Offermann: Das von der BONO-Direkthilfe federführend errichtete Haus soll demnächst für rund 120 Kinder, die in ihrem jungen Leben bereits Gewalt erfahren mussten oder die durch ihre Lebensumstände stark gefährdet sind, missbraucht zu werden, der Lebensmittelpunkt werden. Es sind Kinder von Frauen in der Prostitution, die tagtäglich den Freiern schutzlos ausgeliefert sind. Diese Einrichtung mit hohen Sicherheitsstandards wie Überwachungskameras bedeutet für sie ein behütetes Umfeld, in dem sie angstfrei aufwachsen dürfen. Zurzeit wird noch zusätzliches Personal gesucht, aber die ersten 45 Kinder sind bereits eingezogen. In solchen Häusern braucht es einen verlässlichen Leitungsstab, zu dem neben der Heimleitung unter anderem auch Psychologinnen und Psychologen sowie Rechtsberaterinnen und -berater gehören. Bei dem großen Fest, das wir einen Tag lang mit vielen unterschiedlichen Zeremonien gefeiert haben, kam eine große Dankbarkeit dieser Menschen zum Ausdruck. Denn sie wissen, dass sie in diesem Schutzzentrum nun eine echte Zukunftschance haben.
DOMRADIO.DE: 20 Jahre BONO-Direkthilfe: Sie haben viel bewirkt, und trotzdem weiß man, dass das Erreichte angesichts des weltweiten Kindesmissbrauchs nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Müller-Offermann: Wir leben von den vielen Unterstützerinnen und Unterstützern, die mit ihren kleinen und großen Spenden die Grundlage für unsere Arbeit schaffen. Vieles wäre in den letzten beiden Jahrzehnten ohne deren tatkräftige Mithilfe nicht realisierbar gewesen. Aber natürlich brauchen wir im Verein, zu dem inzwischen etwa 300 Mitglieder zählen, auch in Zukunft noch viele helfende Hände, die für das Thema brennen und Verantwortung übernehmen wollen. Über Veranstaltungen und die „BONO-kids“ versuchen wir immer wieder, auch die nachfolgende Generation an unser Team zu binden, damit die Arbeit eines Tages auch ohne uns weitergehen kann. Tatsache ist, dass die Zahlen von Menschenhandel weiter drastisch ansteigen – gerade auch die von Cyber-Pornografie; eine Entwicklung, auf die wir reagieren müssen und die eine der Herausforderungen der nächsten Jahre sein wird.
Außerdem werden wir uns von nun an noch verstärkter auf die Nachhaltigkeit unserer Projekte konzentrieren. Die Errichtung eines Schutzzentrums ist sehr kosten- und zeitintensiv. Daher werden wir absehbar vor allem in die Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen investieren und in der Qualität der einzelnen Einrichtung nachrüsten – auch um die Abhängigkeit der NGOs von uns zu reduzieren. Der Kampf für die Rechte von Mädchen und Frauen ist für uns noch lange nicht zu Ende.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.