DOMRADIO.DE: Frau Offermann, Nepal ist nicht unbedingt ein Land, das in Deutschland ständig für Schlagzeilen sorgt. Allenfalls ist es für das Himalaya-Gebirge und seine vielen Tempel bekannt. Im Norden grenzt dieser asiatische Binnenstaat an China und im Osten, Süden und Westen an Indien. Was hat Sie bewogen, nach dem Abitur ausgerechnet dort einen freiwilligen Auslandseinsatz zu verbringen?
Catharina Offermann (Studentin der Sonderpädagogik und Mitglied bei BONO-Kids): Ich war immer schon in dem Verein BONO-Direkthilfe aktiv, weil sich bei uns zuhause viel um diese Arbeit dreht, die sich gegen die Verschleppung junger Mädchen und Frauen aus ländlichen Gebieten Nepals richtet. Unter falschen Versprechungen werden sie nach Indien gebracht und dort in die Prostitution verkauft. Trotzdem war ich als Kind und späterer Teenager eher nur "mit dabei" und habe bei Aktionen von BONO mitgeholfen, ohne zunächst wirklich zu wissen, worum es da im Kern geht. Erst als im Rahmen der "KinderKulturKarawane" dann zum ersten Mal junge Mädchen aus Nepal zu Gast in Bensberg waren und mit ihren Tänzen auf diese Problematik in ihrer Heimat aufmerksam machten, habe ich mich eingehender mit dem Thema beschäftigt. Mit 14 Jahren hat mich mein Vater, der den Verein gemeinsam mit Gereon Wagener leitet, dann zum ersten Mal mit zu Maiti Nepal und Nepal Matri Griha, den Partnerorganisationen von BONO in Kathmandu, mitgenommen und mir die Projekte gezeigt, die mit den Spenden aus Deutschland bislang realisiert werden konnten: ein Kinderheim, ein Schutzzentrum für Rehabilitationsmaßnahmen, die Teresa Academy School, und daneben ein Frauenhaus, wo Frauen gemeinsam mit ihren Kindern vor den Zugriffen von Schleppern und Polizei sicher sind.
Alles, was ich dort gesehen und erlebt habe, hat zu meinem Entschluss geführt, einmal hier für einen längeren Zeitraum mitarbeiten zu wollen. Da spielte sicher mit hinein, dass ich nach meinem Abitur neue Erfahrungen sammeln wollte. Zugleich aber ging es mir auch darum, etwas Sinnvolles zu tun. Ich wollte nicht als Touristin in diesem Land unterwegs sein, obwohl es natürlich auch kulturell viel zu bieten hat. Was mich aber genau erwarten würde, ahnte ich damals noch nicht.
DOMRADIO.DE: Und was war das dann? Was hat Sie rückblickend am meisten am Leben der Menschen dort beeindruckt?
Offermann: Große Teile der nepalesischen Bevölkerung sind sehr arm, vor allem auf dem Land. Diese Armut machen sich die organisierten Schlepperbanden zunutze. Sie gehen in die sehr abgelegenen Dörfer der ländlichen Regionen, um den Familien, die dort oft ums nackte Überleben kämpfen, unter Vortäuschung falscher Tatsachen ihre Töchter abzuschwatzen, indem sie ihnen versprechen, in den Großstädten dafür zu sorgen, dass diese eine Schulbildung bekommen und daher Aussicht auf ein besseres Leben haben. Die Kinder dort sind also besonders der Gefahr ausgesetzt, Opfer solcher kriminellen Machenschaften zu werden.
Das Erdbeben im April 2015, bei dem in Nepal fast 9.000 Menschen ums Leben kamen, hat die bereits bestehende Not nochmals dramatisch verstärkt, so dass die Naturkatastrophe diesen Verbrechern zusätzlich in die Hände gespielt hat. Es herrschte und herrscht gerade auf dem Land noch immer ein schockierendes Elend. In der Summe hat das mein persönliches Interesse an einem Engagement in diesem von Krisen gebeutelten Land nochmals verstärkt. Hinzu kommt, dass mir die Einstellung der Menschen dort zum Leben von Anfang an imponiert hat: Trotz ihrer Armut und auch Verzweiflung stellen sie sich grundsätzlich positiv ein und zeigen eine Kämpferhaltung. Sie lassen sich nicht unterkriegen und begnügen sich materiell mit sehr wenig. Für sie zählen nur die wesentlichen Dinge.
DOMRADIO.DE: Welche Arbeit leisten denn die Partnerorganisationen der BONO-Direkthilfe konkret in Nepal?
Offermann: Ganz wichtig ist die Aufklärungsarbeit in den Dörfern, damit die Eltern von Töchtern erfahren, was mit ihren Kindern geschieht, wenn sie sie Fremden mitgeben. Information soll davor schützen, auf diese Masche hereinfallen. Hier geschieht schreckliches Unrecht und viel Leid, und darüber müssen die Menschen Bescheid wissen. Denn einmal im Besitz dieser Schlepperbanden, ist es sehr schwer, diese Mädchen und Frauen wieder zu befreien, weil sie an den Grenzübergängen zu Indien an Bordellbesitzer weiterverkauft werden und sich dann ihre Spur oft verliert. Und je jünger sie sind, desto mehr Geld bringen sie, weil sie als Elf- und Zwölfjährige meistens noch nicht mit Geschlechtskrankheiten infiziert sind und dadurch einen hohen Marktwert haben. Arme Menschen sind hier nichts anderes als eine Ware.
Und dann spielen Resozialisierungsmaßnahmen eine ganz wesentliche Rolle. Denn in den letzten Jahren ist es Maiti Nepal mit Unterstützung der BONO-Direkthilfe gelungen, 5.647 Mädchen und Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden, aufzuspüren und mit Hilfe der Polizei aus ihrer Gewaltspirale zu befreien. Doch meistens befinden sie sich dann in einem elendigen Zustand. Sie sind nach Jahren in der Prostitution gebrochene, traumatisierte Persönlichkeiten. Viele sind ungewollt schwanger geworden und haben oft eingesperrt wie Vieh in viel zu kleinen Bordellzellen gehaust. Maiti Nepal will ihnen beim Wiederaufbau eines neuen Lebens helfen und sie dafür stark machen, Teil der Gesellschaft zu werden, eine Schule zu besuchen und vielleicht sogar eine Berufsausbildung zu absolvieren. Denn viele Familien wollen ihre Töchter nach solchen Erfahrungen nicht zurück, so dass diese Mädchen dann auch noch zusätzlich verstoßen werden, auch wenn Maiti Nepal nach langem Suchen die Herkunftsfamilie ausfindig gemacht hat. Da ist das Bildungsangebot dann doppelt wichtig, damit solche Mädchen eine Perspektive bekommen.
DOMRADIO.DE: Was war dann Ihre Aufgabe bei Maiti Nepal?
Offermann: Ich habe in der Teresa Academy School die 6. und 7. Klasse unterrichtet und den rund 40 Schülerinnen englische Grammatik beigebracht. Hier läuft alles auf Englisch, weil das die offizielle Amtssprache in Nepal ist, aber auch weil man der Überzeugung ist, dass sich ein so kleines Land wie Nepal nicht weiterentwickelt, wenn es sich nicht auch anpasst an die starken Nachbarn. Eine Schulklasse in der Hauptstadt Kathmandu ist allerdings mit deutschen Verhältnissen nicht im Mindesten vergleichbar, denn die Altersspanne auch innerhalb eines Klassenverbands ist sehr groß. Zum Teil waren die Schülerinnen älter als ich. Und dann habe ich mich über die Unterrichtsstunden hinaus auch an den vielen anderen Aktionen von Maiti beteiligt, die für die Mädchen in dieser Schule laufen, wie zum Beispiel Taekwondo zur Selbstverteidigung oder Tanzen, womit sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen.
DOMRADIO.DE: Welche Geschichte bringen diese Mädchen denn mit? Sprechen sie über das Erlebte?
Offermann: Das sind erschütternde Lebensläufe, die man dort zu hören bekommt, wenn sich jemand öffnet. Denn die meisten Mädchen sprechen eher nicht über das, was sie erlebt haben. Viele von ihnen wurden im Alter von drei oder vier Jahren verkauft. Oder sie sind ehemalige Straßenkinder, die niemanden haben, der sich um sie kümmert. Oder aber sie wurden als Baby irgendwo am Straßenrand ausgesetzt, weil Eltern nicht für ein weiteres Kind – und erst recht nicht für ein Mädchen – sorgen konnten. Ich habe mit diesen Schülerinnen unter einem Dach zusammengelebt und dann manchmal erfahren, dass sie zunächst ganz jung noch bei ihren Besitzern die Hausarbeit erledigen mussten, um dann später gezielt auf die Prostitutionsschiene geschickt zu werden. Ich habe nie nachgefragt, aber man konnte immer deutlich die Angst spüren, wenn sich mir ein Mädchen einmal anvertraut hat. Dabei habe ich zum Beispiel erfahren, dass nepalesische Mädchen einen höheren Verkaufswert als indische haben und sie deshalb in die indischen Großstädte verschleppt werden, weil sie einfach viel mehr Geld einbringen.
Einmal hat sich mir ein Mädchen in einem Brief offenbart. Das hat mich zu Tränen gerührt. Aber mit mir sprechen konnte Sita* zunächst nicht. Zu oft haben diese Kinder erlebt, dass sie niemandem vertrauen können. Selbst vor der Polizei laufen sie weg, weil sie fürchten müssen, zu ihren Besitzern zurückgebracht zu werden. Ich habe mich dann mit Sita angefreundet. Aber leider hören wir momentan nichts mehr voneinander, weil keines der Mädchen – aufgrund seiner Vorgeschichte – Kontakte über das Internet haben darf.
DOMRADIO.DE: Sie gehören zu den "BONO-Kids". Was ist darunter zu verstehen?
Offermann: Wie der Name schon sagt, sind wir die Kinder der Generation, die vor 17 Jahren die BONO-Direkthilfe in Bensberg gegründet hat. Zurzeit haben wir zehn Mitglieder. Wie gesagt, als Jugendliche haben wir immer schon bei den Aktivitäten des Vereins mitgeholfen, wollten nun aber auch ein Stück eigeninitiativer werden. Daher haben wir uns im letzten Jahr dann auch ganz offiziell diesen Namen gegeben, um auch andere Jugendliche zu animieren, bei uns mitzumachen und sich gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution zu engagieren. Denn es geht ja nicht nur darum, Spenden für diese Arbeit zu sammeln.
So haben wir uns zu Beginn des Jahres der "Not for sale"-Kampagne angeschlossen, bei der die Fotografin Lena Reiner aus Friedrichshafen in zwei Gladbacher Schulen Schülerinnen mit dem Schriftzug "Not for sale" auf der Haut fotografiert hat. Wir wollten damit junge Leute dafür sensibilisieren, dass Menschen keine Ware sind und schon gar kein käufliches Sexspielzeug. Denn leider steigt trotz aller Bemühungen die Anzahl der Opfer bezahlter Vergewaltigungen an. Das Problem ist real, es ist riesig, und der Aufschrei diesbezüglich bleibt aus. Mit schlichten, aber ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotos und ebenso prägnanten wie einfachen Aussagen, gefüllt mit Fakten rund um die Problematik, wollen wir unter Jugendlichen die Aufmerksamkeit auf dieses wichtige Thema lenken – unter anderem in der Hoffnung, dass soziale Kontrolle zumindest Gelegenheitstäter von ihrem Tun abhält. Dazu passt, dass sich BONO demnächst auch in Deutschland engagieren will, denn bei der "Loverboy"-Thematik geht es schließlich auch um nichts anderes als eine dramatische und zerstörerische Form von Abhängigkeit um der Profitgier willen. Denn Menschenhandel und Kinderprostitution gibt es auch bei uns.
DOMRADIO.DE: Hat Ihr soziales Engagement etwas mit ihrer katholischen Sozialisierung zu tun oder woher kommt Ihre Motivation?
Offermann: Ich bin damit groß geworden, auch zu fragen, wie es den Menschen um mich herum geht. Das gehört zu den christlichen Werten, die ich mitbekommen habe. Andererseits war das Zusammensein mit den Mädchen in Nepal nicht wirklich Arbeit für mich, die mit Anstrengung verbunden war. Es war der größtmögliche Vertrauensbeweis, wenn mich ein Mädchen an seinen bitteren Erfahrungen hat teilhaben lassen. Aber auch sonst habe ich in der Gesellschaft dieser Mädchen sehr viel Warmherzigkeit, Zuwendung und Freude erlebt. Das war wie ein unverhofftes Geschenk. Und ich habe fast täglich etwas Neues entdecken dürfen. Schon jetzt steht für mich fest, dass ich in jedem Fall dorthin zurückkehre.
DOMRADIO.DE: Im Sinne der "Nachhaltigkeit", die für junge Menschen ja von entscheidender Bedeutung ist: Was bleibt von Ihrer fünfmonatigen Zeit in Nepal?
Offermann: Zunächst war es schwierig, überhaupt zuhause – auch in der deutschen Konsumwelt – wieder anzukommen. Denn das Leben in Nepal ist sehr einfach: Im Winter gibt es keine Heizung und auch kaum fließend warmes Wasser. Im Haus hatte ich oft Mütze und Handschuhe an. Ich habe auf einer Holzpritsche geschlafen, die Wäsche mit der Hand gewaschen, auf dem Boden sitzend gegessen und mich jeden Tag von Reis und Gemüse ernährt. Trotzdem war ich in meinem Leben noch nie so glücklich. Man hat dort fast nichts und braucht schon sehr viel Kreativität. Dafür zählt die Gemeinschaft. Viele Menschen sind mir sehr ans Herz gewachsen.
Das alles hat mich sehr geprägt. Es war eine ungemein bereichernde Zeit. Denn man bekommt ganz viel zurück für das, was man einsetzt. Vieles von dem, was ich heute mache – zum Beispiel mein Studium der Sonderpädagogik – resultiert aus diesen Erfahrungen. Ich wollte immer schon mit Kindern und im sozialen Bereich arbeiten. Und mit einem Mal hatte ich in der Klasse so viele Kinder mit einer extremen Geschichte vor mir. Dabei ist mir klar geworden, dass wir hier in diesem reichen Deutschland oft das Wesentliche nicht im Blick haben und man sich nicht einfach wegducken darf. So gesehen wird Nepal ein Teil meines Lebens bleiben.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.