Geheimnisumwobenes Vatikan-Dossier im Fall Orlandi existiert

Papst-Staatsanwalt spricht über Ermittlungen

Seit über 40 Jahren spekuliert Italien über das Verschwinden der 15-jährigen Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi. Papst-Staatsanwalt Alessandro Diddi spricht nun über eine Entdeckung bei seinen neuerlichen Ermittlungen.

Autor/in:
Severina Bartonitschek
 Demonstranten machen im Jahr 2019 auf das Verschwinden von Emanuela Orlandi vor dem Vatikan aufmerksam 
 / © Burkhard Jürgens (KNA)
Demonstranten machen im Jahr 2019 auf das Verschwinden von Emanuela Orlandi vor dem Vatikan aufmerksam / © Burkhard Jürgens ( KNA )

"Fünf Hypothesen - alle könnten falsch sein, aber nicht alle wahr, weil sie sich gegenseitig ausschließen." Vergangene Woche sprach der üblicherweise schweigsame vatikanische Staatsanwalt Alessandro Diddi über seine Ermittlungen in einem der spektakulärsten Kriminalfälle Italiens - das Verschwinden von Emanuela Orlandi.

Ein Plakat an einer Wand in Rom zeigt das Foto der seit dem 22. Juni 1983 vermissten Emanuela Orlandi / © Romano Siciliani/Romano Siciliani (KNA)
Ein Plakat an einer Wand in Rom zeigt das Foto der seit dem 22. Juni 1983 vermissten Emanuela Orlandi / © Romano Siciliani/Romano Siciliani ( KNA )

Seit über 40 Jahren bewegt das ungeklärte Schicksal der damals 15-jährigen Vatikan-Bürgerin die Gemüter. Jegliche Ermittlungen liefen bislang ins Leere. Regelmäßig aber tauchen vermeintlich neue Hinweise oder Zeugen auf, stets lärmend begleitet von Italiens Medien. Zusätzlich wirbt Orlandis Bruder Pietro mit turnusmäßigen Interviews und Talkshow-Auftritten um Aufklärung.

Kritik an staatlichem Untersuchungsausschuss

Im März dieses Jahres noch richtete Italiens Parlament einen Untersuchungsausschuss ein. Dessen Anhörungen kritisiert Diddi als "Spektakel", die der Rekonstruktion der Ereignisse nicht dienlich sei. Der Staatsanwalt selbst hatte 2023 im Auftrag von Papst Franziskus neuerliche Ermittlungen im Fall Orlandi aufgenommen. Und darüber sprach er vergangene Woche bei einer Buchvorstellung in Rom.

Pietro Orlandi hält ein Bild seiner Schwester Emanuela während einer Sitzblockade in der Nähe des Petersdoms / © Gregorio Borgia (dpa)
Pietro Orlandi hält ein Bild seiner Schwester Emanuela während einer Sitzblockade in der Nähe des Petersdoms / © Gregorio Borgia ( dpa )

Dabei bestätigt Diddi erstmals die bis dato höchst umstrittene Existenz eines Vatikan-Dossiers über das verschwundene Mädchen. "Das Dossier existiert und wir haben es gefunden." Es sei jenes Dokument über das Pietro Orlandi vor dem staatlichen Ausschuss gesprochen habe.

Verbindung zu Benedikt XVI. und Gänswein?

Möglicherweise handelt es sich dabei um jenen "Orlandi-Bericht", den Paolo Gabriele, der damalige Kammerdiener Benedikts XVI., auf dem Schreibtisch von dessen Privatsekretär Georg Gänswein gesehen haben will. Gabriele wurde im Rahmen des Vatileaks-Skandals wegen Diebstahls vertraulicher Dokumente des Papstes verurteilt und später begnadigt. Der 2020 gestorbene Ex-Kammerdiener hatte Pietro Orlandi von besagtem Dossier berichtet, es aber - anders als viele andere Papiere - nicht kopiert.

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. und sein Privatsekretär, Kurienerzbischof Georg Gänswein im Dezember 2015. / © Osservatore Romano (KNA)
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. und sein Privatsekretär, Kurienerzbischof Georg Gänswein im Dezember 2015. / © Osservatore Romano ( KNA )

Gänswein bestreitet dies. Ein Dossier, das die ganze Wahrheit über Hergang und Täter umfasse, habe es nie gegeben, schreibt er in seinem Buch im Jahr 2023. "Ich habe nie etwas im Zusammenhang mit dem Orlandi-Fall zusammengestellt, daher wurde dieses 'Phantomdossier' nicht veröffentlicht, weil es einfach nicht existiert."

Über Autorenschaft und Inhalt des Berichts wollte Diddi sich nicht äußern. Dies würde die verschiedenen "nebulösen Theorien", die gelegentlich in der Presse auftauchten, nur noch weiter anheizen, so der Staatsanwalt. Aber er hoffe, eines Tages die geleistete Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können - einschließlich des "berühmten Dossiers", aus dem dann jeder seine eigenen Schlüsse ziehen könne.

Spekulationen über Verschwinden des "Vatikan-Mädchens"

Am 22. Juni 1983 kehrte Emanuela Orlandi, die damals 15-jährige Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II., von ihrem Musikunterricht nicht nach Hause zurück. In den folgenden Jahrzehnten entspannen sich um ihr Verschwinden zahllose Gerüchte und Verschwörungstheorien. Eine besagt, das Mädchen sei entführt worden, um eine Freilassung des Türken Mehmet Ali Agca zu erzwingen. Dieser hatte im Mai 1981 auf dem Petersplatz ein Attentat auf Johannes Paul II. verübt. Spekuliert wurde auch über eine Erpressung der Vatikanbank durch eine römische Mafia-Organisation oder vatikanische

Sex- und Drogenpartys, deren Opfer Emanuela geworden sein könnte. Das Gerücht, dass Emanuela abgeschieden in einem Kloster leben soll, hält sich ebenfalls hartnäckig. All dies ließ sich nie beweisen.

Fünf Spuren

Diddi bestätigt fünf alternative Spuren der vergangenen Jahre: Menschenhandel, Probleme innerhalb der Familie Orlandi, Hinweise zu einem möglichen Missbrauch im Vatikan, sowie die Hypothesen um Ali Agca und die Vatikanbank.

Alessandro Diddi, Professor für Strafprozessrecht an der Universität von Kalabrien, Hauptstrafverfolger im Vatikan, beim Gerichtsprozess zum vatikanischen Finanzskandal im Staatssekretariat am 9. März 2023 im Vatikan. / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Alessandro Diddi, Professor für Strafprozessrecht an der Universität von Kalabrien, Hauptstrafverfolger im Vatikan, beim Gerichtsprozess zum vatikanischen Finanzskandal im Staatssekretariat am 9. März 2023 im Vatikan. / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

Ziel sei es zu verstehen, welche Hypothesen eliminiert werden könnten und welche nicht. Über weitere Erkenntnisse oder ein mögliches Untersuchungsende sprach Diddi nicht: "Papst Franziskus hat mich immer aufgefordert, Nüchternheit und Vertraulichkeit zu wahren, und das ist meine Hauptaufgabe, auch um den Preis, dass ich Kritik einstecken muss, auf die ich nicht antworten kann."

Quelle:
KNA